Zwillinge mit Cerebralparese: Zwei Frohnaturen, die gern laufen würden

Frühchen

Liebe Stephanie, vor drei Jahren wurden Eure Zwillinge zehn Wochen zu früh geboren. Beide haben eine Cerebralparese. Erklär mal bitte, was das genau ist und wie das die Zwillinge beeinflusst. 

Cerebralparese ist eine Bewegungsstörung, deren Ursache in einer Schädigung des Gehirns durch eine mangelnde Sauerstoffversorgung liegt. Eine Cerebralparese kann sich in ganz unterschiedlichen Symptomen äußern. In unserem Fall haben die Zwillinge eine Muskelhypertonie in unterschiedlicher Intensität – d.h. eine hohe Spannung, vor allem in den Beinen, auch die Arme und Hände sind betroffen.

Diese erhöhte Spannung, auch als Spastik bekannt, führt bei unseren Zwillingen dazu, dass sie bis heute noch nicht frei stehen und auch nicht laufen können. Das Sitzen, z.B. in der Badewanne oder am Esstisch, ist teilweise noch instabil, daher muss man sie dabei begleiten und immer in der Nähe sein. Auch ihre Feinmotorik ist noch eingeschränkt – die beiden brauchen dadurch beim Essen oder z.B. auch beim Malen oft noch mehr Unterstützung als Gleichaltrige.

Es hat zwei Jahre gedauert, bis Ihr wusstet, was die Kinder haben. Warum hat das so lange gedauert? 

Die Zwillinge sind zwar zehn Wochen zu früh gekommen, jedoch konnten in den Untersuchungen im Krankenhaus, vor allem den Ultraschalluntersuchungen vom Kopf, keine Auffälligkeiten wie z.B. Blutungen festgestellt werden. Deshalb sind wir erst einmal davon ausgegangen, dass sie zwar in ihrer Entwicklung das ein oder andere aufzuholen haben, was bei Frühchen ja oft der Fall und normal ist. Insgesamt schien erst einmal alles in Ordnung zu sein.

Dass etwas nicht stimmt, zeigte sich das erste Mal gegen Ende ihres 1. Lebensjahres. Beide kamen viel später ins Sitzen und dann auch nur sehr instabil. Auch das Krabbeln setzte deutlich später ein, erst mit ca. 15 Monaten. Aber auch da haben wir und die Ärzte uns noch damit beruhigt, dass sich jedes Kind für die einzelnen Entwicklungsschritte unterschiedlich viel Zeit lässt. Es gibt natürlich definierte Zeiträume, aber Frühchen gibt man noch einmal mehr Zeit. 

Mit circa 1,5 Jahren kam dann der Verdacht auf, dass es doch eine Schädigung im Gehirn nach der Geburt gegeben haben muss. Die Therapie, die in einem solchen Fall gemacht wird (insbesondere Physiotherapie), haben wir glücklicherweise schon seit dem 4. Monat mitgemacht, einfach weil sie Frühchen waren. Im letzten Jahr haben wir dann ein MRT machen lassen, das uns dann endgültig die Diagnose bestätigt hat.

Wie seid Ihr als Eltern mit dieser Diagnose umgegangen?

Für meinen Mann und mich war es anfangs unglaublich schwer. Rückblickend gesehen denke ich, dass wir wahrscheinlich in dem vollgepackten Alltag für eine Weile diese Tatsache auch verdrängt haben. Wir waren rund um die Uhr damit beschäftigt, zwischen den Therapien, zahlreichen Untersuchungen, den üblichen Kinderkrankheiten und dem Berufsleben mit den drei Kindern irgendwie zurecht zu kommen. 
An einem Abend saßen wir dann abends auf dem Sofa und es hat uns emotional überrollt. Das schlimmste Gefühl war, dass wir die Einschränkungen für unsere Jungs nicht „wegzaubern“ können. Und was uns so traurig gemacht hat war die Ungewissheit darüber, ob sie irgendwann werden laufen können oder ob sie noch weitere (kognitive) Einschränkungen haben, die man erst später feststellen kann.

Das war sicher eine schwere Zeit…

Ja, mir als derjenigen, die die Kinder zur Welt gebracht hat, kam dazu immer wieder die Frage in den Kopf, was ich hätte tun können, um die Frühgeburt zu verhindern. Viele andere Zwillingsmamas haben es schließlich auch viel weiter geschafft, dachte ich….
Mittlerweile hat sich durch und mit unseren Kindern alles etwas„zurecht geruckelt“.

Unsere Zwillinge sind solche Sonnenscheine, die Tag für Tag so unglaublich viel Spaß haben. Es beschäftigt sie natürlich immer wieder, dass andere Kinder laufen, rennen oder Roller fahren, und sie äußern den Wunsch, das auch tun zu wollen. Das tut uns in diesen Momenten dann sehr weh. Aber wir haben gelernt, dass ihr Glücklichsein nicht davon abhängt, ob sie laufen werden oder nicht. 

Die Zwillinge zu fördern und zu unterstützen kostet viel Zeit und Kraft. Deshalb hast du im letzten Jahr deinen Job aufgegeben. Das war sicherlich nicht leicht… Erzähl mal, warum Ihr Euch so entschieden habt. 

Vor der Geburt der Zwillinge hatte ich fest vor, nach einer längeren Pause wieder in meinen Job zurückzukehren. Es war mir immer wichtig, berufstätig zu bleiben.

Mit den Entwicklungsverzögerungen und letztendlich den Diagnosen war irgendwann klar, dass eine Rückkehr in meinen Job nicht möglich ist. Zumindest glaube ich, dass es zu Lasten der Kinder gehen würde, wenn ich arbeiten würde. Sie haben mehrmals in der Woche Therapien und immer wiederkehrende, feste Untersuchungstermine. Zudem habe ich im letzten Jahr eine knapp sechswöchige Reha mit den beiden gemacht, von der wir hoffen, sie jährlich wiederholen zu können. Sie haben jetzt, wo sie noch so klein sind, die besten Chancen kognitiv umzulernen. Und nicht zuletzt ist unser großer Sohn im Sommer eingeschult worden, so dass er uns jetzt auch noch mehr braucht und wir für ihn dasein möchten. 

Ich könnte mir vorstellen, dass dir diese Entscheidung auch viel Druck genommen hat. Stimmt das? 

Ja, absolut. Es war eine Erleichterung zu wissen, dass ich mich voll und ganz auf die Kinder konzentrieren kann. Wir haben Glück, dass das bei uns überhaupt machbar ist. Nicht bei jeder Familie reicht ein Einkommen aus.

Und dennoch war es schwer für mich, in die vollständige finanzielle Abhängigkeit von meinem Mann zu gehen. Obwohl wir eine Partnerschaft absolut auf Augenhöhe haben und er sehr gut einschätzen kann, was ein Tag mit drei Kindern bedeutet, war es für mich kein leichter Schritt. Meine Arbeit vermisse ich nach wie vor, auch wenn es für mich die einzig richtige Entscheidung in unserer Situation war, weil unsere Kinder diese Zeit und Aufmerksamkeit genau jetzt unbedingt brauchen. In Momenten, wenn ich sehe, wie wir vier die gemeinsame Zeit genießen und welche Fortschritte die Zwillinge machen, bin ich glücklich! 

Was vermisst du am meisten an deinem alten Alltag?

Was ich besonders vermisse ist der Austausch mit den Kollegen, sich inhaltlich mit (auf eine andere Weise) anspruchsvollen Themen zu beschäftigen, zu beraten, zu coachen und, um ehrlich zu sein, auch die damit verbundene Wertschätzung. Eben nicht „nur“ Mama zu sein. Es gibt noch viele weitere Seiten und Leidenschaften, die zu mir gehören, die auch „mitleben“ wollen und gerade keinen Platz haben.

Du kümmerst dich sehr intensiv um die Kinder. Was machst du, damit Dir die Kraft nicht ausgeht? Wo holst du dir neue Kraft?

Bis vor einem Jahr bin ich sehr gerne regelmäßig zum Yoga gegangen. Im letzten Jahr ist es dann leider ziemlich eingeschlafen. Seit ein paar Wochen mache ich hin und wieder ein paar Online-Sessions, einfach weil ich sonst durch das ständige Tragen der Zwillinge Rückenprobleme bekomme. Was immer sehr gut tut, besonders in Situationen, in denen nichts mehr geht, ist, die Kopfhörer aufzusetzen und in voller Lautstärke Musik zu hören. Und mich abends mit Freundinnen zu treffen oder telefonieren. Im Sommer waren wir oft lange draußen im Wald oder sind über Wiesen spazieren gegangen und hatten im Rucksack zwei Gläser und ein paar Snacks dabei. Herrlich. 

Wenn du dir eine Sache wünschen könntest, die dich entlastet – was wäre das?

Eine längere Zeit fehlte mir jemand, der mich besonders an den Nachmittagen und am Abend beim Spielen, Essen zubereiten, auf dem Spielplatz etc. unterstützt. Es ist oft eine große Herausforderung, allen Bedürfnissen gleichzeitig gerecht zu werden. Unser großer Sohn hat mit 6 Jahren oft ganz andere Interessen und ich möchte ihm auch Zeit widmen. Wir haben jetzt wieder eine Unterstützung gefunden, die zweimal in der Woche fest zu uns kommt. Wir haben aber auch großes Glück mit unseren Familien, die uns oft unterstützen!

Was uns zusätzlich sehr geholfen hätte, wäre eine Art zentrale Anlaufstelle, die Familien wie uns ganzheitlich zu Themen wie Therapiemöglichkeiten, Pflege, Schwerbehinderung, Reha usw. berät. Vieles haben wir glücklicherweise durch den Austausch mit anderen Eltern, die in einer ähnlichen Situation sind, in der Reha erfahren und durch die Sozialberaterin dort vor Ort. Vielleicht gibt es auch etwas in dieser Art schon und uns ist es nur noch nicht bekannt. 

Gibt es Prognosen, wie sich die Jungs entwickeln? Was wünscht du dir für sie?  

Inzwischen gehen die Therapeuten und Ärzte davon aus, dass der Ältere von beiden irgendwann ohne Hilfsmittel laufen können wird. Bei unserem zweiten Zwilling ist das noch nicht klar. Mit einem sogenannten Walker – ihr könnt euch das wie eine Art Rollator vorstellen, den man hinter sich herzieht – können die beiden schon jetzt die Welt aus einer anderen Perspektive entdecken Für die beiden ist das aber auch sehr anstrengend und sie schaffen immer nur ein paar Minuten am Stück.

Für die beiden wünschen wir uns einfach, dass sie ihre Frohnaturen behalten und ihnen in ihrem Leben Menschen begegnen, die es gut mit ihnen meinen!


9 comments

  1. Hallo,

    hier Mal eine andere Sicht, die von einer erwachsenen ICPlerin 🙂

    Mein Gehirn würde bei der Geburt geschädigt durch, naja, „wir warten noch ab mit dem Kaiserschnitt“. Ergebnis: beidseitige Spastik in den Beinen. Hände sind nicht betroffen.

    Man sieht mir meine Behinderung an. Aber: ich kann frei laufen (auch ohne Hilfsmittel, trage aber eine Orthese, wenn ich außer Haus bin).
    Das ich mal mein Leben völlig unabhängig, mit Abitur, gutem Beruf, Mann und Kind leben würde, dachte zunächst niemand.
    Jahrelange Physio, Operationen und andere Baustellen gingen dem voraus.

    Meine Behinderung geht nie weg. Aber ich kann damit leben und das sehr gut, meistens zumindest.
    Einen kleinen Hinweis habe ich: Therapie ist wichtig. Kind sein aber auch 🙂

    1. Liebe Christine, einfach bewundernswert! Vielen Dank, dass du diesen Einblick gegeben hast, deine Erfahrungen teilst! Ich wünsche dir alles Gute!

  2. Liebe Stephanie, von Herzen alles Gute für Eure Kinder! Ich wünsche Euch sehr, dass sie sich so gut wie nur möglich entwickeln, möglichst viel Eigenständigkeit entwickeln, vor allem aber, dass sie weiterhin fröhlich und mit einem Lachen durchs Leben gehen!

  3. Hallo, ich wünsche dir viel Kraft für den Alltag und den Therapiemarathon. Wenn du Zeit hast schau mal bei UniReha „Auf die Beine“ nach. Dort hat mein Frühchen mit knapp 5 Jahren laufen gelernt. Die Therapeuten und das Konzept sind unglaublich gut und effektiv. LG

    1. Liebe Karin, herzlichen Dank für deine Nachricht und Empfehlung! 🙏🏻Es tut so gut zu lesen, was euer Schatz erreicht hat und was alles möglich ist! Alles, alles Gute euch!

  4. Ich wünsche der Familie viel Kraft und weiteres Durchhaltevermögen. Wir haben auch Zwillinge. Die Ältere Sophie, hat auch eine Cerebralparese. Auch ähnlich wie bei Euch. Sie ist jetzt 10 Jahre und läuft nun längere 30 min am Rollator. Unzählige Termine und Physio liegt hinter uns. Aber man muss eben immer dran bleiben 😍was ich absolut empfehlen möchte ist in Köln „Auf die Beine“. Das hat Sophie nochmal ein Stück weiter gebracht😍Liebe Grüße und weiterhin viel Kraft😍Familie Platten

    1. Liebe Sylvia, herzlichen Dank für deine Worte und das Teilen eurer Erfahrungen! ❤️Das hilft uns sehr! Alles Liebe und Gute euch und euren Zwillingen, besonders eurer Tochter Sophie! Liebe Grüße, Stephanie

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert