Wir bleiben immer Mama: Vom Unfall meines Sohnes und seinem Weg zurück ins Leben

„Bitte legen Sie nicht auf“, ruft jemand hastig in das Telefon, „sind Sie die Mutter von Caspar?“ Es ist fünf Uhr morgens, mein Herz schlägt bis zum Hals, ich bin hellwach und sofort im Alarmmodus.

„Ja, ich bin Caspars Mutter, was gibt es?“

„Mein Name ist auch Caspar, ich bin ein Freund Ihres Sohnes. Wir studieren gemeinsam an der ESADE. Ich bin in Barcelona im Krankenhaus. Caspar hat heute Nacht einen Unfall gehabt. Die Ärzte hier sagen, dass seine Eltern sofort kommen sollen …

Ich stehe auf, gehe zu meinem Schreibtisch, nehme einen Stift und frage mich, ob ich alles richtig verstanden habe. Ich bitte diesen Caspar Zwo, mir noch mal langsam und ganz genau zu berichten, was er weiß.

Was sich hier ankündigt, ist nicht weniger als der absolute Eltern-Alptraum. Weit weg von zu Hause, in einer Umgebung, deren Sprache ich nicht spreche, liegt mein 26jähriger Sohn in einem Krankenhaus, augenscheinlich nicht in der Lage, mich selbst zu benachrichtigen.

Ich muss nach Barcelona! So schnell wie es geht! Ich muss mich konzentrieren und fasse nochmal zusammen. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber es führt dazu, dass Caspar in einer Klinik liegt. Ich höre sofort auf zu spekulieren, zu mutmaßen und versuche, die Bilder in meinem Kopf zurück zu drängen. Bloß kein Kopfkino!

Annunziata Hoensbroech

Die Familie informieren, packen, Flug buchen. Auf der Fahrt zum Flughafen verteile ich ein paar Aufgaben, bitte Freunde, einen Dolmetscher für mich in Barcelona zu suchen.

Verursache ich zu viel Wirbel?, frage ich mich. Es muss ja nicht immer das Schlimmste passiert sein! Sollte dies der Fall sein, bitte ich meine Freunde lieber schon jetzt einmal um Entschuldigung: „Ihr kennt mich, ich bin es, die Chaos-Tante, die immer mit zwei Rädern gerade noch durch die Kurve kommt. Es tut mir leid!“

Ich bin mir im Unklaren darüber, was für eine Situation ich in Barcelona vorfinden werde und stehe allem, was nun folgt, völlig unvorbereitet gegenüber, in diesem Fall ist es die Tür zur Intensivstation der Uniklinik in Barcelona. Eigentlich wollte Caspar nur ein Jahr lang seinen Master hier machen, Studentenleben im Ausland, nochmal rauskommen…

Dann bin ich endich in Barcelona. Mein Herz rast und ich atme schneller und denke, dass es also doch die Intensivstation ist und versuche, mich mit dem nächsten tiefen Atemzug innerlich zu wappnen, bevor ich hineingelassen werde. Jedoch: Gegen eine solche Darstellung kann man sich nicht wappnen. Der Monolog der Ärzte, was meinem Kind widerfahren ist, trifft mich mit voller Härte.

Caspar wurde mit hoher Geschwindigkeit von einem Taxi angefahren, zu Boden geschleudert und mitgerissen. Ich bin entsetzt über das, was mir die Ärzte sagen, und verzweifelt über das, was sie nicht sagen. Die Liste der Knochenbrüche, der inneren Verletzungen ist schier endlos und die Antwort auf die Frage, ob mein Sohn diesen Unfall überleben kann, steht als bedrohliche Stille im Raum.

Wie sieht man Chancen, wo auf den ersten Blick keine da sind? Das ist für mich das „Eltern-Privileg“! Wie oft sehen wir in unseren Kindern viel mehr als den laufenden Meter mit der Rotznase, der gerade vor uns steht! Wir haben keine Zweifel daran, dass dieses Kind es schaffen wird, ein fröhliches, selbstbestimmtes Leben zu führen, dass es sich seinen Platz im Leben erobert, Freunde findet und in eine verheißungsvolle Zukunft geht.

Wenn wir Eltern nicht an unser Kind glauben, wer soll es dann tun?

So sitze ich am Krankenbett meines Sohnes, den ich kaum wieder erkenne, weil er so verbunden und verkabelt ist, dass er darunter beinah verschwindet. Nur seine wiederspänstige Locke nicht.

Diese Locke, die ihm schon als kleiner Junge immer frech in die Stirne hing, sich unter jeder Mütze hervorgeschummelt hat, nicht in den ersten Fahradhelm wollte, die Caspar von seinem Zwillingsbruder Jacob unterscheidet, und die nun die Hirndrucksonde kaum verbergen kann.

„Ich glaube an Dich“ flüstere ich ihm ins Ohr und tauche ein in seinen Geruch den ich sofort erkenne und der dieses unwirkliche Szenario unmittelbar in die Realität katapulitiert.

Bin ich alleine? Gibt es jemanden, der gerne mit mir tauschen würde? Es gibt einige Situationen, in denen ich mir diese Fragen stelle, um innerlich einen Schritt zurückzugehen, um meine Schwierigkeiten zu relativieren. So lange ich in meinen Gedanken jemanden finde, der gerne mit mir tauschen würde, so lange kann es nicht allzu schlimm um mich und mein Problem bestellt sein.

Also: Finde ich jemanden, der jetzt gerade gerne mit mir tauschen würde? Ja!

Meine Gedanken gehen zu Freunden, die ihren Sohn durch einen Verkehrsunfall verloren haben. Die keine Chance hatten, an seinem Bett zu sitzen und an ihn zu glauben. Die keine Chance hatten, ihm zu versprechen, die nächsten zwei Tage mit ihm auszuharren, mit ihm von Stunde zu Stunde in Richtung Leben zu gehen.

So werde ich dankbar.

Dankbarkeit ist ein guter Motor. Ich bin dankbar, überhaupt eine Chance zum Kämpfen zu haben. Und so nehme ich und nehmen wir – Caspars Zwillingsbruder Jacob, seine Schwester Chiara, sein Bruder Titus und unsere ganze Familie – den Kampf auf!

Caspar, Jacob, Chiara und Titus

Nach über einer Woche mit Tränen und Schlafmangel, mit Hoffen und Bangen, mit Ausharren und dem sturen Willen, nicht weiter als die nächste Stunde in die Zukunft zu denken, fängt Caspar spontan an zu atmen. Flach, zaghaft aber kontinuierlich. Die Monitore zeigen es. Kleine scharf gezackte Tannenzapfen zwischen den regelmäßig auf und absteigeneden Suaerstoffwellen der Beatmungsmaschine.

Es ist ein unglaublicher Durchbruch und die größte Freude! Caspar wird überleben. Aber mit jeder positiven Nachricht, jedesmal wenn wir so unbeschreiblich erleichtert sind, kommt die nächste Sorge. Überleben reicht auf einmal nicht mehr, es ist die Fage: Wie wird er leben?

Caspar kommt nicht zu sich. Seite einigen Tagen bekommt er keine sedierenen Medikamente mehr. „Er hätte längst sein Bewußtsein zurückerlangen sollen“, sagt uns der diensthabende Arzt. „Wir gehen auch davon aus, dass er es leider nicht mehr zurück erlangen wird“. Überleben, um Jahr um Jahr als Komapatient dahinzudämmern? Es war alles umsonst!

Caspars Geschwister, wir alle sind wie erstarrt!

Wer überlebt denn, um so zu enden? Das kann doch nicht Gottes Plan mit meinem Kind gewesen sein! Aber wer kennt schon Gottes Pläne? Ich nicht und die Ärzte auch nicht. Wenn für Gott alles möglich ist, dann ist auch das Gute möglich.

So bleibt alles offen und wir weichen nicht von Caspars Seite, lassen nicht nach, ihn zu überzeugen, bei uns zu bleiben. Machen ihm Mut in seinen geschundenen Körper zurückzukommen, weil wir ihn brauchen und weil er noch so viel Schönes in seinem Leben zu erwarten hat. 

Und Caspar kommt zurück und kommuniziert mit uns. Anders als gedacht, aber für uns unmißverständlich.

Sein Herz schlägt schneller, wenn wir bei ihm sitzen. Alle Vitalwerte werden lebhaft und tanzen auf den Monitoren in die Höhe, wenn wir ihn berühren, durch seine Haare streicheln. Sind es Reflexe? Für uns ist das Caspar!

Und die Bestätigung kommt wieder nach vielen, langen Tagen und ganz unerwartet. Wie ein Wimpernschlag – so sacht beginnt Caspar mit seinem Daumen die Hand seiner Schwester zu berühren. Ein so sanfter Druck, dass sie sich fragt, ob er es ist, oder ob sie es sich so sehr wünscht, er möge es sein.

„Caspar, bist Du das?“ Wieder die Andeutung eines Drucks mit seinem rechten Daumen. Caspar ist da, er ist bei uns, und er weiß, dass er nicht alleine ist.

Wie auf einer Parabel werden wir von unserer Freude ganz weit nach oben getragen, auf den Höhepunkt der Kurve, nur um im nächsten Augenblick im freien Fall der nächsten Angst entgegenzustürzen.

Caspar ist da, aber wer wird er sein, wenn er nach vielen Wochen des Komas wieder zu sich kommt? Wird es Wesensveränderungen geben? Wird die Zukunft für ihn der Rollstuhl sein, oder wird er laufen können? Ganz langsam lösen sich diese Fragen. Er findet seine Sprache wieder, seine Erinnerungen und seinen Humor.

Nach Monaten steht er aus dem Rollstuhl auf und geht seine ersten Schritte. Intensive Rehabilitation, mit sturem Blick nach vorne, kämpft er sich zurück in sein altes Leben. Keine Sekunde ließ er einen Zweifel daran, dass er sich nicht mit weniger zufrieden geben würde.

Caspar

In diesem ersten Jahr von Caspars Rehabilitation spannt sich der Bogen von unseren ersten Überlegungen darüber, was eine Woche, ein Tag und eine Stunde ist – bis hin zu seinen Fragen darüber, wie er an der Uni seine nächste Präsentation halten kann.

Es ist nun drei Jahre her, seid wir den Kampf um und für Caspar aufgenommen haben. Caspar hat seinen Universitätsabschluß gemacht und geht die ersten Schritte in sein berufliches Leben – und immer noch arbeitet er hart an sich und seiner völligen Rehabilitation.

Verändert haben wir uns alle. Wir wissen um unsere innere Stärke. Unsere Großfamilie hat sich als festes Fundament bewiesen, für das ich es immer hielt.

Caspar und seine Geschwister haben sich in einer besonderen Weise bewährt. Auch wenn die gemachten Erfahrungen, die sie kaum mit ihren Altersgenossen teilen können, sie ein Stück weit von ihrem alten Leben separiert haben.

Vielleicht, weil sie den „Aufreger-des-Tages“ nicht mehr teilen können. Vielleicht, weil sie um die Zerbrechlichkeit des Lebens wissen in einem Alter, in dem sie eigentlich die Könige er Landstraße sein sollten, mutig ihre Welt erobernd, frei und unsterblich!

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Die ganze Geschichte vom Unfall und was er sie und ihre Familie gelehrt hat, hat die Mama für sich, die Geschwister, aber auch für Caspar aufgeschrieben. Denn während er um sein Überleben kämpfte, veränderte sich seine Familie nachhaltig. Die Dankbarkeit hält bis heute an: Annunziata Hoensbroech: Schicksalsschlag. Der Weg zurück ist kein Spaziergang. Herder. (Affiliate Link).

 


2 comments

  1. Wow und Danke
    Danke für diesen gefühlvollen und toll geschriebenen Beitrag.
    Und Wow, Caspar hat unglaubliche Stärke und Überlebenswillen in sich. Ihr seid eine tolle Familie, die füreinander da ist!
    Ich bin tief berührt, besonders da mein Bruder diesen Sommer nach mehreren Wochen im Koma (schwerer Herzinfarkt) nun auch seine Schritte ins Leben zurück macht. Er sitzt im Rollstuhl und kann schon wieder die ersten Schritte machen.
    Alles Liebe für euch!
    Johanna

  2. Ich habe noch nie einen
    Ich habe noch nie einen Beitrag kommentiert irgendwo, aber das, was die Mutter hier beschrieben hat, hat mich wirklich zu Tränen gerührt! Soviel Liebe in ihren Worten und in ihrem scheinbar unerschütterlichen Glauben an ihren Sohn und ihre Familie. Ein solcher Artikel lehrt Demut! Und macht so dankbar für gesunde Kinder, aber er erinnert einen auch an die Ur-Angst, die wohl jede Mama kennt: was wäre wenn?
    Ich werde mir gleich das Buch kaufen und bin gespannt auf die Geschichte. Und für Caspar alles Gute weiterhin! Er scheint ein echter Kämpfer zu sein, der es geschafft hat! Und das ist ein Wunder, was leider nicht allen Familien gegönnt ist… wie schön, dass es hier anders ist! Ein Augenblick, in dem die Welt still steht und sich nun zum Glück weiterdreht 🙂

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