Es hätte eine besonders glückliche Phase ihres Lebens sein können: Lilli und ihr Mann hatten gerade ein Haus gebaut, beruflich lief es gut, ihre Tochter würde bald zwei werden – und sie waren immer noch verliebt. In diese Idylle platzte die Diagnose für ihren Mann: Leukämie.
Ein Dreivierteljahr zerriss sich Lilli zwischen ihm und ihrer kleinen Tochter, zwischen Krankenhaus und Kita. Dann starb ihr Mann mit 39. Lilli fühlte sich taub, konnte keine Musik mehr ertragen. Bis sie im Sommer des Jahres nach seinem Tod ein Stück von Bourani hörte, das ihrer Trauer eine neue Richtung gab. Daraufhin schrieb sie dem Musiker diesen Brief.
Ein Brief als Dank an Andreas Bourani
Lieber Andreas Bourani,
ich möchte mich bei Dir bedanken. Deine Musik hat mich ein stückweit zurück ins Leben geholt.
Bis vor zwei Jahren war immer mein Mann unser DJ im Haus gewesen. Ich kannte kaum einen Interpreten mit Namen, sondern nur die Lieder – vom Hören. Er brachte immer wieder neue mit, ich brauchte mich nicht zu kümmern. Seitdem mein Mann die Diagnose Leukämie bekam, habe ich keine Musik mehr gehört. Jedes Lied erinnerte mich an einen bestimmten Urlaub, bestimmte Momente mit ihm und unserer kleinen Tochter. Nicht einmal mehr im Auto konnte ich das Radio anstellen. Nicht in dem schlimmen Dreivierteljahr vor seinem Tod, in dem ich mich zerriss, zwischen Krankenhausbesuchen, unserer zweijährigen Tochter, meiner Arbeit, dem Haus und allem, was erledigt werden musste. Und auch nicht in dem traurigen Jahr nach seinem Tod. Er starb im Februar.
Ich stand unter Schock. Eigentlich seit diesem Tag, denke ich im Rückblick. Ich versuchte zu funktionieren, für meine Tochter da zu sein. Fröhlich mit ihr zu spielen, auch wenn mir nach Heulen zumute war. Ich wollte alles schaffen, alles gut machen, Kind, Arbeit, Papierkram, Haus und Garten unter einen Hut bringen. Ich verdrängte alles durch Aktionismus. War ständig unterwegs, machte weite Reisen, verabredete uns fast täglich. Im Mai dieses Jahres konnte ich nicht mehr so weiter machen. Meine Kraft war endgültig verbraucht. Und dann hörte ich dein Lied „Hey!“ im Radio. Und irgendetwas passierte mit mir. Ich begann runterzufahren. Loszulassen. Ich konnte wieder Musik hören, Emotionen zulassen. Und da ist auch ab und zu wieder etwas Lebensfreude. Wieder am Leben! Ich höre das Album seitdem, wann immer es geht. Meine Tochter singt auch schon mit. Sie ist gerade 4 geworden und versteht nicht, was sie da singt. Aber sie will jetzt immer den Mann hören, „der springt“ (weil du auf dem Coverfoto deines Albums in die Luft springst).
Danke für deine wundervolle Musik, Lilli
Was dem Brief voranging – die ganze Geschichte
Der Anruf kam an einem warmen Nachmittag, Mitte Mai. Unsere Tochter hatte ihre erste Bindehautentzündung und ich wartete auf einen Rückruf des Kinderarztes. Doch dann war es mein Mann, der mich anrief. Ich konnte kaum verstehen, was er sagte. Dann kam der eine Satz: „Ich habe Leukämie!“
Ich stand im Flur im Keller. Alles war wie in Trance. Soeben zersprang mein wunderbares Leben in viele tausend Teile. Es riss mir den Boden unter den Füßen weg. Leukämie. Krebs. Blutkrebs.
Wenn der Sinn von allem sich nicht zeigt, sich tarnt bis zur Unkenntlichkeit, wenn etwas hilft mit Sicherheit, dann Zeit. Es geht vorbei, es geht vorbei.
Andreas Bourani in seinem Lied „Hey“
„Aber das kann doch nicht sein!“, sagte ich. Es werde gerade geklärt, in welches Krankenhaus er käme, antwortete er. „Komm sofort.“ Ich ging aus dem Keller hoch, unsere Tochter lief irgendwie hinter mir her. Sie holte Klopapier für mich. „Hier Mama“, sie streckte ihre Hände zu mir aus. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie sehr mir die Tränen liefen. Ich brachte meine Kleine zu den Nachbarn, sie weinte, ich musste los. Sie war bis dahin kaum einmal von mir getrennt gewesen. Mein Mann. Der Papa. Aber heute Morgen war doch noch alles gut!
Papa hat Leukämie? „Heute Morgen war dann noch alles gut!“
Er würde das packen! Ich machte mir Mut, machte ihm Mut. Nach außen stark. So war es schon immer bei uns, er eher pessimistisch, ich optimistischer. Du schaffst das. WIR schaffen das.
Irgendwie hatte er sich matt gefühlt in den letzten Wochen, hatte blaue Flecken ohne sich gestoßen zu haben. Wahrscheinlich überarbeitet, dachten wir. Vielleicht ein Infekt. Er ging zum Arzt, danach zur Arbeit und erfuhr in seinem Büro am Telefon, dass sich sein Leben jetzt ändern würde. Es war ein Freitag. Am Sonntag begann die Chemo. Er war 38, wir waren erst knappe drei Jahre verheiratet, unsere Tochter noch nicht ganz zwei Jahre alt.
Die Diagnose Krebs kam, als gerade alles perfekt zu sein schien
Wir verbrachten soeben den ersten Frühling in unserem eigenen Haus in Berlin. Er hatte sich damit seinen Lebenstraum erfüllt. Er hatte solchen Spaß gehabt, Bauherr zu spielen und täglich nach dem Fortschritt zu schauen. Erst einen Sommer her und doch ein ganzes Leben. Krebs.
Wenn das Leben grad zu allem schweigt, dir noch eine Antwort schuldig bleibt, dir nichts anderes zuzurufen scheint als Nein – es geht vorbei.
Andreas Bourani in seinem Lied „Hey“
Die ersten Chemos liefen nicht gut, brachten nicht den erhofften Erfolg. Und ohne wirkungsvolle Chemo war keine Stammzelltransplantation möglich. Mit jeder neuen Behandlung schöpften wir Hoffnung und wurden doch immer wieder enttäuscht.
Die Chemos waren furchtbar, mein Mann, der Macher, sah nicht mehr richtig, er hatte Schmerzen in den Füßen, ihm war schlecht. Bald, bald würde es ihm bestimmt besser gehen. Ganz sicher. Wir würden ein neues Leben beginnen! Bewusster leben, mehr Zeit nutzen, genießen.
Spagat zwischen Kita, Arbeit und Krankenhaus
Ich lebte in einem Spagat zwischen Kita, Arbeit und Krankenhaus. Ich aß nur noch im Laufen, hetzte von 6 bis 24 Uhr durch den Tag. Ich fühlte mich, als sei ich nirgendwo gut genug. Beide brauchten mich mehr, als ich für sie da sein konnte.
Mein Mädchen brauchte plötzlich einen Schnuller, den es vorher nie wollte. Es weinte, weil es seine Mama zu wenig sah. Wachte nachts ständig auf und klammerte sich im Schlaf an mich. Als ich mal an einem Samstagnachmittag nicht im Krankenhaus war, kuschelte sie sich nach dem Mittagsschlaf auf meinen Schoß. Wir blieben regungslos so sitzen. 1 ½ Stunden.
Trotzanfälle und Todesangst: Zerrissen zwischen den Welten
Sie trotzte die gesamte Zeit und oft war es so absurd. Ich kam aus dem Krankenhaus, mal wieder gab es schlechte Nachrichten. Und sie bekam einen Schreianfall, weil die Butter nicht richtig auf ihr Brot geschmiert worden war.
Hey, sei nicht so hart zu dir selbst, es ist ok, wenn du fällst. Auch wenn alles zerbricht geht es weiter für dich.
Andreas Bourani in seinem Lied „Hey“
Manchmal weinte auch er, wenn ich ihn im Krankenhaus zurücklassen musste. Ich machte allen Mut. Redete der Verwandtschaft gut zu. Ich funktionierte. Meine Bedürfnisse – mich – gab es nicht mehr. Ohne meine vielen treuen Helfer und meine aufopferungsvollen Eltern hätte ich diese Zeit nicht durchgestanden.
„Papa wohnt jetzt im Krankenhaus“
Diese Krankheit platzte mitten rein in unser Leben. Mitten rein in unser Glück. „Papa wohnt jetzt im Krankenhaus“, sagte unsere Tochter. Zu Beginn schickten wir uns noch viele Videos hin und her und skypten. „Schau mal, unsere Kleine singt jetzt immer, wenn sie isst.“ Später konnte er die Bilder und Videos nicht mehr ertragen, zu sehr schmerzte es ihn, nicht dabei sein zu können. Er war so gerne Papa, wirklich stolz auf unsere kleine Große. Ihren zweiten Geburtstag verpasste er, er lag in der Klinik.
Wenn die Angst dich in die Enge treibt, es fürs Gegenhalten nicht mehr reicht. Du es einfach grad nicht besser weißt – dann sei. Es geht vorbei. Es geht vorbei.
Andreas Bourani in seinem Lied „Hey“
Nach drei Monaten endlich die richtige Chemo! Eine Transplantation wurde möglich. Die würde helfen, ganz bestimmt. Die DKMS fand einen Spender in den USA, die Stammzellen wurden über Washington nach Berlin-Tegel geflogen. Ich war bei ihm, während die neuen Zellen in seinen Körper flossen. Wir schickten Fotos an Freunde. Seht her, jetzt wird alles wieder gut!
Endlich Hoffnung: Eine Stammzellspende aus den USA
Sein Körper nahm die Spende an, die Werte waren so gut wie nur möglich. Endlich durften wir aufatmen. Zu Nikolaus kam er nach Hause, da lag die Diagnose bereits ein halbes Jahr zurück. Es war schön, ihn wieder bei uns zu haben, auch wenn es eine Herausforderung für mich war, ein Kitakind mit einem immungeschwächten Papa unter einen Hut zu bringen.
Extreme Hygiene, Hände desinfizieren, bloß keine Krankheiten. Außerdem wollte er, dass ich lang an seinem Bett saß – so wie im Krankenhaus. Sie wollte spielen – und mit Papa toben. Der aber war zu schwach. Er konnte kaum allein die Treppe hoch. Aber für Musik sorgte er wieder. Wir hörten „Another love“ von Tom Odell. Oft. Wir waren auf dem richtigen Weg. So dachten wir.
Die Behandlung verläuft ungewöhnlich: keine guten Zeichen
Doch die Blutwerte wurden einfach nicht besser. Alle drei Tage brauchte er Transfusionen. Das war ungewöhnlich. Es ging ihm immer schlechter. Er ahnte die böse Nachricht, die ich nie wahrhaben wollte. Mitte Januar war die Leukämie zurück. Es hatte alles nichts genützt. Die endlosen Qualen. Die Krankheit war stärker.
Wenn jeder Tag dem andern gleicht und ein Feuer der Gewohnheit weicht. Wenn lieben grade kämpfen heißt. Dann bleib. Es geht vorbei, es geht vorbei.
Andreas Bourani in seinem Lied „Hey“
Eine weitere Behandlung. Erfolglos. Dann noch eine andere Chemo. Sie verlief gut, er durfte sogar danach nach Hause. Doch schon wenige Tage später ging es ihm schlechter. Wieder musste er ins Krankenhaus. Nachmittags war ich noch bei ihm. Nachts eine letzte SMS.
Geht es zu Ende? Alles wie im Film
Morgens um 6 Uhr klingelte mein Telefon. Das Krankenhaus. Intensivstation. Kommen Sie bitte sofort.
Eine Lungenentzündung, ein Dreivierteljahr nach der Diagnose. Sein Immunsystem war heruntergefahren. Sein Körper würde nicht mehr dagegen ankommen. Er wird die Nacht wohl nicht mehr schaffen, sagten die Ärzte.
Seine Familie reiste an. Freunde kamen. Unsere Tochter sagte „Tschüss, Papa“.
Am nächsten Morgen tat er seinen letzten Atemzug. Ich war bei ihm. Hand in Hand.
Halt nicht fest, lass dich fallen. Halt nicht fest, lass dich fallen. Halt nicht fest, lass dich fallen. Halt nicht fest, lass dich fallen. Halt nicht fest, lass dich fallen. Halt nicht fest, halt nicht fest.
Andreas Bourani in seinem Lied „Hey“
Bei seiner Beerdigung spielten wir Tom Odells „Another Love“, es war das letzte Lied, das er sich bei Itunes heruntergeladen hatte, es war das Lied, das er rund um Weihnachten zu Hause so oft aufgelegt hatte. Für mich war es das letzte Lied, das ich hörte, bevor ich ein stilles Jahr später Bourani für mich entdeckte.
Dreieinhalb Jahre nach der Hochzeit müssen wir Abschied nehmen
Dreieinhalb Jahre war es erst her, dass unsere Familien und Freunde zusammengekommen waren, um unsere Liebe, unser Glück, unsere Hochzeit zu feiern. Nun standen wir wieder zusammen, zwei Wochen nach seinem Tod. Diesmal am Grab.
Ein neues Leben begann. Aber nur für mich und unsere Tochter. Das hatten wir anders geplant.
Trauerbegleitung: In Zeiten von Abschied und Trauer ist Unterstützung wichtig. Trauerbegleitung ist ein Stück Lebenshilfe für betroffene Menschen. Diese Hilfen bietet zum Beispiel das Lavia Institut für Familientrauerbegleitung. Auch eine Kur kann Betroffenen helfen, zurück ins Leben zu finden, zum Beispiel in der Klinik Sellin, die spezielle Trauerbegleitung für Mütter und Väter nach dem Verlust ihres Partners bietet. Austauschen können sich Betroffene auf der Seite www.verwitwet.de.
Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift Eltern. Die Namen sind zum Schutz der Privatsphäre der Beteiligten verfremdet.
5 comments
Danke für diesen Beitrag.
Ich kann die Worte so sehr nachfühlen. Ich musste meinen Mann letztes Jahr im Februar gehen lassen, unsere Tochter war auch erst 4 Jahre alt und ich schwanger mit unserem zweiten Kind.
Du bist so tapfer und ich wünsche dir und deiner Tochter weiterhin liebende Menschen um euch und ganz viel Unterstützung.
Musik ist ein wunderbarer Begleiter in der Trauer.
Ich bin sehr berührt.
Halten Sie durch. Ich hoffe, dass die Zeit die Trauer ein wenig lindern kann.
Alles erdenklich Gute.
Alles Gute an Lilli und ihre Tochter.
Hoffentlich findet sie einen Weg damit umzugehen.
Sehr traurig. Es tut mir so leid für Dich und Deine Kleine !
Ich habe Tränen in den Augen.
Mein herzliches Beileid für Euren Verlust.
Den Papa, den Mann kann niemand ersetzen und trotzdem wünsche ich Ihnen Beiden alles Glück der Welt und dass die Zeit die Wunden heilt.