Ich erinnere mich gut. Als alle drei Kinder noch zur Schule gingen, hatte ich manchmal genau einen Gedanken im Kopf, wenn ich selbst nach einem Arbeitstag nach Hause fuhr: Hoffentlich ist noch keiner da!
Dies – und das muss ich betonen – dachte eine Mutter, die ihre Kinder bis zum heutigen Tag inniglich liebt und sehr gerne um sich hat. Der Grund für den wenig freundlichen Gedanken: In mir war noch so viel Anspannung, dass ich weder Nerven für Geplapper, noch für Fragen, noch für Klagen hatte. Entsprechend gereizt ging es dann manchmal zu. „Wieso bist du so unfreundlich? Ich hab dir gar nichts getan.“ Da hatten sie recht.
Aus ihrer eigenen Sicht kamen meine Kinder selbst gerade von einer harten Sache zurück. Wie mein Vormittag möglicherweise gewesen war, hatten sie nicht auf dem Schirm. Weil sie es nicht auf dem Schirm haben konnten. Woher sollten sie wissen, wie sich das berufliche Leben ihrer Mutter gelegentlich anfühlte. Natürlich hatten sie schon unzähligen Lehrkräften beim Unterrichten zugesehen, aber wie es in deren Innerem aussah und vor allem, wie es im Inneren ihrer eigenen Mutter aussah, konnten sie beim besten Willen nicht wissen.
Wenn ich es ihnen nicht sagte. Das wurde mir irgendwann klar.
Ich will nicht behaupten, dass ich jedes Mal, wenn ich ihnen schlecht gelaunt gegenübertrat, einen genauen Rapport über meine Erlebnisse und Befindlichkeiten lieferte. Aber ich habe ihnen tatsächlich immer wieder mal berichtet, was mir die Laune soeben verhagelt hatte und warum sich das für mich belastend anfühlte. Selbstverständlich nicht nur, wenn es um meinen Beruf ging. Und wenn es um ihn ging, selbstverständlich, ohne Interna auszuplaudern oder Namen zu nennen.
Kinder sind nicht zu klein, um Emotionen zu verstehen
Ich kann nur sagen: Es hat sich bewährt!
Ja, ich weiß: Manche Eltern denken, dass die Kids noch zu klein sind, dass sie „das“ noch nicht verstehen, dass man sie nur überfordert und unnötig belastet. Andere denken, dass „das“ die Kinder nichts angeht. Sie wollen sich vielleicht auch keine Blöße vor ihren Kindern geben. Wieder andere lassen es einfach, weil sie keine Lust haben, über Belastendes zu reden. Und schon gar nicht mit den eigenen Kindern!
Dabei steckt darin eine so große Chance: Wenn wir Eltern unsere Kinder an unseren Gedanken und Gefühlen teilhaben lassen, verstehen sie uns und unser Handeln viel besser. Ehrlichkeit und Transparenz schaffen Nähe. Gleichzeitig werden Perspektivwechsel und Empathie geübt. Ach, so hat die Mama das erlebt! Ach, jetzt kann ich verstehen, dass sie traurig war!
Natürlich müssen wir dabei auf das Alter der Kinder achten. Natürlich dürfen wir nicht unseren Seelenmüll auf ihnen abladen. Aber unseren Unmut, unsere Gereiztheit, unser Überforderungsverhalten müssen sie ja ohnehin aushalten. Da ist es eine Entlastung, wenn sie erfahren, dass Mama heute schlecht drauf ist, weil es in der Arbeit schwierig war oder weil ihr der Rücken vom vielen Sitzen wehtut. Selbst wenn sie zugibt, dass eine Auseinandersetzung mit der Nachbarin der Grund für ihr verkniffenes Gesicht ist, ist das besser, als wenn die Kinder im Ungewissen bleiben. Zu leicht denken sie ja: Bestimmt bin ich schuld, dass es Mama nicht gut geht. Das mit der Auseinandersetzung gilt auch für den eigenen Partner. Solange man nicht über ihn herzieht, kann man auch das den Kindern offen sagen: „Wir haben uns gerade gestritten. Das ist nicht schlimm. Aber ich brauch ein bisschen Zeit, um mich zu beruhigen. Das kennst du doch von dir selber auch, wenn du dich streitest.“
Das Reden war wie eine Erlösung für uns alle
Ich selbst hatte mal eine miese Phase. Die gute Laune wollte nicht wiederkommen. Meine Kinder spürten, dass etwas in mir nicht in Ordnung war. Als ich endlich den Mut fand, mit ihnen – in diesem Fall mit jedem Kind einzeln – zu reden, war das wie eine Erlösung. Für uns alle. Ich war überwältigt von ihrer Solidarität und ihrem Verständnis für meine Situation und zeigte ihnen, wie gut mir ihr Mitfühlen tat. Sie waren spürbar erleichtert, weil sie nun nicht mehr im Ungewissen waren. Tatsächlich wurde alles besser.
Die Kinder lernen so: Negative Gefühle sind normal. Auch Mama und/oder Papa ärgern sich, fühlen sich ungerecht behandelt, könnten vor Wut platzen, sind niedergeschlagen … Und was die Kinder dabei auch erleben: Das kann man lösen. Das geht wieder vorbei.
Nicht zu unterschätzen: Die Kinder lernen am Vorbild. Ah, Papa hat mir erzählt, dass er heute gewaltig Stress hatte. Es ist also in Ordnung, dass man über so etwas mit den Menschen redet, die einem wichtig sind.
Und schließlich fühlen sich die Kinder aufgewertet und ernst genommen, wenn Eltern sie an ihrem Innenleben teilhaben lassen.
Ich habe bis heute das Gefühl, dass unsere Familie und die gegenseitigen Beziehungen von dieser Offenheit und Transparenz profitiert haben. Dass den Kindern Ehrlichkeit in Bezug auf unangenehme Situationen und Gefühle – uns Eltern gegenüber – dadurch leichter fiel. Und ich wage zu hoffen, dass unsere Kinder etwas Positives mit in ihre eigenen Erwachsenen-Beziehungen genommen haben.
Wir lieben unsere Kinder immer, auch mit schlechter Laune
Den Anfang kann man übrigens schon mit kleinen Kindern machen. Ihnen erklären, dass es nicht immer etwas mit ihnen zu tun hat, wenn Mama böse schaut. Und dass auch das Böse-Schauen nichts mit dem Liebhaben zu tun hat, sondern mit Druck, mit Angst, mit Enttäuschung, mit Ärger und manchmal auch mit körperlichem Unwohlsein.
Gerade jetzt in diesen harten Zeiten, wo Familien so nah aufeinanderhocken und vieles so schwierig, ja belastend ist, kann diese Offenheit geradezu laune- und friedensrettend sein, davon bin ich überzeugt.
Als ich das Bilderbuch „Und trotzdem hab ich dich immer lieb“ geschrieben habe, wollte ich den Kindern das sichere Gefühl vermitteln, dass Missstimmung zwischen Eltern und Kind nichts mit dem Liebhaben zu tun hat. Was ich aber auch zeigen wollte: Mama/Papa und Kind können miteinander darüber reden, warum nicht immer Sonnenschein herrscht, ja herrschen kann. Wichtig finde ich, dass sie dies nicht auf einer streng sachlichen Ebene tun, sondern kombiniert mit großer, auch körperlicher Nähe. So hat das Kind beides – Informationen, die ihm helfen, die Welt besser zu verstehen, und gleichzeitig – dank dieser Nähe und des Kuschelns – die Sicherheit einer tiefen Bindung.
—-Heidemarie Brosche, Autorin dieses Textes ist dreifache Mama und Lehrerin. Wir haben schon mehrere Beiträge von und mit ihr hier veröffentlicht. Wer weiterlesen möchte:
– Mein Kind ist genau richtig wie es ist