Weihnachtskarten? Verdammte Scheiße, warum kriegen wir so etwas nie auf die Reihe?

Wir sind zu Besuch bei Freunden. Meine gute Freundin drückt mir beim Abschied fast beiläufig ein Kuvert in die Hand: „Ach, das wollte ich dir auch noch geben“. Zu Hause öffne ich das Kuvert. Es ist der 2. Dezember. Es ist eine Weihnachtskarte. Es ist eine professionell gestaltete Weihnachtskarte. Farbdruck, doppelseitig, Hochglanz. Ein Fotograf hat wunderschöne Fotos von den 4 Kindern und den gutaussehenden Eltern gemacht. Sie wünschen uns Love, Peace and Happiness. „Wie schön“, sagt mein Mann. „Ja, schon“, sage ich. Vielleicht hätte ich lieber gesagt: „Verdammte Scheiße, warum kriegen wir so etwas nie auf die Reihe?“

Aber, ich merke zuerst ja gar nicht, dass meine gute Laune verschwunden ist. Ich merke gar nicht, dass ich einen kleinen Stein im Bauch habe. Ich merke auch nicht, dass ich den übrigen Tag damit verbringe, mir selbst auf die Finger zu schauen. Ich notiere, dass ich vergessen habe, die Taschentücher zu kaufen, dass ich den Text in meinem Kopf noch immer nicht geschrieben habe, und dass der Große nur noch ein T-Shirt im Schrank hat, das passt, weil er über Nacht 10 Zentimeter gewachsen ist. Ich merke nur, dass meine Laune immer schlechter wird.

Ende November, Anfang Dezember könnte man auf unsere Familie Wetten abschließen. „Wetten, dass ein, zwei oder drei Kinder krank sind?“ Oder: „Wetten, dass gerade dann der Mann im Ausland ist?“. Oder: „Wetten, dass die Mutter sich nur noch mit Aspirin-Complex auf den Beinen hält?“. Man könnte hohe Summen Geld mit uns verdienen. Lustig sind wir gerade gar nicht.

Die Freundin, die mit dem Kuvert, hat 4 Kinder, die gar nicht, bis selten krank sind, und wenn, nur einen Tag. Die Kinder sind sehr ruhig und ausgeglichen. Ich habe noch nie ein Kind schreien oder mit einem Geschwisterkind streiten gesehen. Sie hat zwei Jobs, die sie glücklich und erfolgreich machen. Der ebenso erfolgreiche Vater ist bei allen Kindergartenwandertagen dabei. Sie haben ein tolles Haus, und eine Katze, die nicht in den Garten will um Mäuse zu fangen, die sie dann auf den Kopfpolster legen könnte.

Ich habe kein Kuvert. Unsere Kinder sind rund ums Jahr gut verteilt krank. Unsere Kinder sind sehr temperamentvoll, phantasievoll und schreien und streiten jeden Tag. Ich mache meine Jobs und erscheine meistens gehetzt und alleine bei Kindergartenwandertagen. Wir hatten ein tolles Haus, jetzt sind die Wände voller Tapser, die Böden haben Kratzer, auf der Terrasse steht ein eingefrorener Bananenbaum. Unser Hund ist alt und inkontinent, wir verbringen viel Zeit im Wald.

Ob ich vergessen habe, dass Vergleiche unglücklich machen und nur ins Verderben führen? Ob ich nicht gelernt habe, die Erfolge und das Glück der anderen wohlwollend anzuerkennen? Ob ich nicht meine Zeit mit anderen Dingen ausfüllen will, als mit mir und meiner Performance zu hadern? Fragt mein Mann. Nach ein, zwei Tagen lichtet sich langsam mein innerer Nebel. Die Kinder sind noch immer krank, mein Tempo ist gedrosselt.

Ich schaue mich wachsam im Bekanntenkreis und Freundeskreis um. So viele Frauen sind Super-Performerinnen. Einige sind Over-Performerinnen. Will ich dazugehören? Will ich meine Tage auch vollstopfen, bis nichts mehr hineinpasst? Will ich mein Leben durchstylen, bis ich mich selbst nicht mehr darin erkenne? Will ich auf Schlaf verzichten, freie Vormittage opfern und mein Leben der Jagd nach Erfolgen widmen? Will ich vor anderen Eindruck schinden? Will ich alles perfekt machen? Keine Angriffsflächen bieten? Ja, nein, ja, nein, die Antworten verändern sich nach Tageszeit und Stimmung.

Was ich sicher weiß, ist, dass ich Mensch bleiben will. Ich möchte sagen, dass ich müde bin. Ich möchte sagen, dass ein freier Vormittag am Berg meine Seele nährt. Ich möchte gestehen, dass mir Dinge zu Herzen gehen, und ich Zeit dafür brauche, sie zu verstehen und zu bewältigen. Ich möchte meinen Kindern zugestehen, dass auch sie Mensch sein können. Dass sie mit Halsweh zu Hause bleiben können. Dass sie traurig, langsam, laut und verschreckt sein dürfen.

Die Kinder werden gesund, der Alltag nimmt wieder Fahrt auf. Ich freue mich, dass auch bei uns die Tage wieder locker dahinfließen, wir Erfolge einfahren und zufrieden sind. Die innere Stimme ist leiser geworden. Sie hat eine Nuance Mitgefühl für die, die sich zu viel auferlegen und die leise Idee keimt, dass auch ich für andere eine Super-Performerin sein könnte.

Doch diesen Verdacht widerlege ich sehr gerne mit einem ehrlichen Eingestehen von Schwächen, mit meinem Humor für unsere Fehltritte und unserem Mut, auch ohne Weihnachtskarte das Haus zu verlassen!

—-Über die Autorin:  Mirijam Bräuer ist in Steiermark geboren und aufgewachsen. Nach vielen Wanderjahren lebt sie heute mit ihrer Familie in Graz. Die Autorin ist Romanistin, Pädagogin und Lehrende für Deutsch als Zweit-und Fremdsprache. Das Schreiben bildet den Rahmen all ihrer Tätigkeiten: durch ihr Werk zieht sich ein humanistisches Menschenbild und die tiefe Überzeugung, dass Worte Menschen bewegen und berühren können. Zu ihrem Werk zählen unter anderem ein Kinderbuch, ein Familien-Erzählband und ein Ratgeber für ein erfülltes Frauenleben. In ihrem Blog „Mann hoch Vier“ erzählt sie regelmäßig aus ihrem bewegten Leben mit 4 Männern (1 großer Mann, 3 kleine Männer).

 


6 comments

  1. Da bin ich doch auch gleich dabei
    Mir gehts ganz genau so. Alle anderen haben ein sauberes Haus, arbeiten in mindestens einem Job, haben gut erzogene Kinder usw. Aber hey: Ich lebe mein Leben so, wie ich es haben möchte egal, was andere davon halten. Das ist mir wichtig und dafür mache ich gerne Abstriche bei den oben genannten Sachen

  2. Interessant, beim Thema
    Interessant, beim Thema aufwendige Adventskalender ging hier in den Kommentaren die Resonanz eher in die Richtung, dass viele sich diese Arbeit gerne machen für ihre Kinder.
    Was, wenn die Weihnachtskarten-Frau vielleicht ja ganz einfach daran Freude hat, die Karten zu erstellen und zu verschicken? Mit dem Gedanken im Kopf, anderen eine Freude zu machen (Hey, toll, endlich mal wieder schöne persönliche Post im Briefkasten!), und mit dem Gedanken, auf diese Art den Kontakt zu Verwandten oder Freunden zu halten, der sonst vielleicht schon eingeschlafen wäre?

    1. Ich kann Nina nur zustimmen.
      Ich kann Nina nur zustimmen. Auch wenn ich keine Weihnachtskarten verschicke, finde ich es eine gute Geste den Kontakt aufrecht zu erhalten. Mir selbst macht es keine Freude Fotos zu machen, die Karte zu gestalten und einen passenden Text zu schreiben. Mit meiner Zeit fange ich persönlich lieber was anderes an. Aber ist doch toll, wenn es jemand anderes gerne macht!
      Mirijam, freue dich doch einfach über die schöne Karte und fertig. Deine Freundin wollte sicher nicht, dass du dich mies fühlst. Die eine setzt hier Prioritäten, die andere dort. So what?

      1. Ich freu mich ja eh 😉 Diese
        Ich freu mich ja eh 😉 Diese Karte war einfach der Anlass, ein wenig über die Perfektion unserer Welt zu schreiben 😉 Und ja, wir sollten das tun, was uns Freude macht und uns erfüllt, und das ist eine höchst individuelle Entscheidung! Wünsch euch eine gute Weihnachtszeit!

  3. sehr schön geschrieben
    Herzlichen Dank für diesen wertvollen Beitrag. Ja, man kann sich selbst sehr schnell verlieren, auf dem Weg zur Perfektion. Und die Vergleichsfalle ist echt die tückigste überhaupt.
    Bei dem Part mit den Wetten gab es meinerseits gleich mehrfach zustimmendes Nicken. Leider geht auch in unseren Wänden seit Mitte November konstant die Krankheit umher und sucht sich ständig ein neues Opfer, gerne auch mehrmals nacheinander die gleichen Personen. Dann der Mann 2 Wochen auf Geschäftsreise und Mama schluckt brav Zink und trinkt regelmäßig Obstsäfte, um der Abwehr immerhin ein bisschen unter die Arme zu greifen.
    Weihnachtskarten wird es keine geben, aber ein neuer Info-Brief muss auf jeden Fall noch raus.
    Wir versuchen uns aber dennoch aufs Wesentliche zu besinnen und dem vielen unnötigen Klimbim die kalte Schulter zu zeigen.
    In diesem Sinne: macht Pausen, wenigstens kleine zwischendurch mal, und atmet den Advent mit allen Sinnen, denn es ist eine besondere Zeit im Jahr, die es wert ist, gefeiert zu werden!

  4. Weihnachtskarten Beitrag
    Liebe Mirijam, ja, es gibt sie, die perfekten Weihnachtsfrauen. Auch ich gehöre nicht zu ihnen. Obwohl, seitdem ich das Buch „simplify your Weihnacht“ vor Jahren überflogen habe – zum Lesen gab ich mir vor Weihnachten keine Zeit – weiß ich, dass Karten schreiben nicht dazu beitragen, an den Feiertagen eine schöne Stimmung zu Hause zu haben. Und das ist doch das Wichtigste!

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