Update von Aylin: So geht es mir vier Jahre nach Johannas Tod

Hallo ihr Lieben, ich bin Aylin und viele von euch kennen ein Stück meiner Geschichte, die ich 2016 schon einmal mit euch teilen durfte. Damals habe ich Euch vom Leben mit Johanna erzählt und vom Abschied von ihr. 

Nun wollten einige von Euch wissen, wie es mir heute geht und ich bin gerne bereit, euch das zu erzählen. Für die, die mich jetzt erst kennenlernen: Aylin, 34, Mama von Julius, Johanna und Jette. Johanna verstarb 2015 nach zweijährigem Kampf an den Folgen einer Schwerstmehrfachbehinderung. 

Heute, im Juni 2019, kann ich sagen: Es geht mir gut. Es gibt noch ein paar kleine Dinge, die ich verändern werde, aber das Grundgerüst steht. Ich erinnere mich an die viele Kommentare nach meinem ersten Beitrag, die sagten: "Wow, bist du stark!"

Soll ich euch etwas verraten? Nein! Ich war nicht stark. Ich bin einfach vor all dem Schmerz, der Trauer, dem Vermissen davon gelaufen. Ich wollte nicht wie andere Eltern sein, die an dem Verlust der Lebensaufgabe zerbrechen. Also habe ich ein Wort aus meinem Wortschatz gestrichen – das Wort "Nein".  

Wann immer ich hörte: "Kannst du mal? Machst du mal?" rief ich "Ja, ja, ja". Ich wollte nicht zur Ruhe kommen, nicht still stehen, mich nicht mit all dem auseinandersetzen. Ich wollte Mottine (Johannas ewig bleibender Spitzname) ihre Ruhe gönnen. Ich wollte nicht auch mal böse sein, nicht wütend sein auf all das, was wir durch eine Fehlentscheidung eines Anderen ertragen mussten. Ich wollte sie nicht aus tiefstem Herzen vermissen. Ich wollte einfach wieder die Löwin Aylin sein, die ich bis dahin immer war. 

Letztes Jahr im Oktober war es dann soweit. Da hat meine Seele eingefordert, endlich einmal von mir ernst genommen zu werden. Ich bin zusammengebrochen und war ein kleines Häufchen Elend. Soviel Tränen, Verzweiflung, Trauer, Wut, Hilflosigkeit habe ich noch nie auf einmal gespürt und ich habe wochenlang gehofft, dass es endlich vorbei ist. Ich stand ganz nah am Rand des Abgrunds und die ersten Wochen in der Klinik – denn um einen stationären Aufenthalt kam ich nicht herum – waren die absolute Hölle.

Ich habe mich als die absolut größte Versagerin auf der ganzen Welt gefühlt und alles fiel mir unendlich schwer. Statt mir Ruhe zu gönnen und zu akzeptieren, dass jetzt einfach Pause ist, hab ich weiterhin ständig routiert – ich habe mir in der Klinik viele Aufgaben gesucht und ständig Dienste der anderen übernommen.

Bis kurz vor Weihnachten dann endlich die schmerzhafte Einsicht kam. Ich bin morgens aufgestanden, weinend. Ich weinte den ganzen Tag und konnte mir erstmals sagen: "Aylin, nimm die jetzt Zeit. Ruh dich aus, gönn deiner Seele Ruhe, trauere um Johanna, trauere aber auch um dich." Das klingt jetzt komisch, aber ich erkläre es euch. Mich gibt es in der Version 1.0 nicht mehr. Seit Johannas traumatischer Geburt ist in mir viel Grundlegendes erschüttert worden, mein Vertrauen in mich und andere, meine Sorglosigkeit, mein fröhliches Wesen. Stattdessen zogen Zynismus, Sarkasmus, Zweifel und Angst ein – in dem Moment waren es sicherlich schützende Begleiter vor noch viel mehr Schmerz – aber auf Dauer sind sie nicht empfehlenswert.

Ich war sechs Monate in stationärer Therapie und gestalte mein Leben just seit zwei Wochen neu. Julius und Jette waren in diesen Monaten gut untergebracht, beiden geht es gut. Nun bin ich Aylin 2.0 und gerne erzähle ich euch, was sich verändert hat. Ich höre wieder auf meine innere Stimme, letztlich hatte die immer recht – in der Geburtsituation wurde sie nur nicht gehört und ich habe lange keinen Zugang mehr zu meinem Bauchgefühl gehabt.

Ich bin wieder unkomplizierter, ich muss nicht mehr ständig über meine Gefühle und Gedanken grübeln. Ich kann lachen und es fühlen. Ich kann lieben. Ich kann mit einem Lächeln durch die Welt gehen und andere damit anstecken. Ich kann ich sein. Ich kann damit umgehen, dass mein Leben mit Julius und Jette die Zukunft ist und Johanna uns immer begleiten wird.

Sarah Connor hat letzte Woche ihr neues Album herausgebracht und ein Lied heißt "Flugzeug aus Papier (für Emmy)". Emmy ist das Kind von Freunden von Sarah und mit 1 1/2 Jahren ertrunken. Ich habe dieses Lied im Zug das erste Mal gehört, Vorschlag in meiner Playlist. Ich habe es direkt auf Dauerschleife gestellt und viele Tränen vergossen. Das Lied fasst so unglaublich gut in Worte, wie es ist, ein Kind zu verlieren und eigentlich an der Vergangenheit festhalten zu wollen. Eigentlich hätte ich an dieser Stelle gerne ein Stück Text aus dem Lied eingefügt, aber es wirkt nur im Ganzen – also empfehle ich einfach, hört es euch an.

Das Wichtigste, was ich gelernt habe und was mir nun niemals wieder verloren gehen wird, ist folgendes: Gerade wenn man auch mal schwach ist, um Hilfe bittet, etwas nicht alleine schafft, zeigt man mehr Stärke, als wenn man immer meint, alles alleine tragen zu können. Wenn man mir heute sagt, dass ich stark bin, kann ich das bejahen.

Was mache ich derzeit? Ich bin, wie erwähnt, gerade frisch aus der Klinik entlassen und starte mein Leben nochmal komplett neu. Ich bin zurück in meinem geliebten Bielefeld, wohne mitten in der Stadt und gehe kleine Schritte, um ans Ziel zu kommen. Viel ist auf der Strecke geblieben, meine Freunde kann ich an einer Hand abzählen – doch das wird sich bestimmt auch wieder ändern. Ganz allein gehe ich aber nicht durchs Leben: es gibt seit kurzer Zeit jemanden, der mich auf meinem Weg begleitet und auch meine beste Freundin möchte ich hier erwähnen. Sie hat auch dann an mich geglaubt, als ich es nicht mehr tat.

Ich möchte nun auch endlich beruflich in dem Bereich Fuß fassen, den Johanna mir nah gebracht hat – Umgang mit behinderten Kindern. Ich möchte weiterhin Erfahrungen sammeln, Erinnerungen – aber gerne mehr positive, wenn ich mir das wünschen könnte.

Nun, am Ende meines Updates, möchte ich nochmal sagen, warum ich noch immer jedem eine Johanna wünsche. Genau wie im Text von vor drei Jahren ist es eher als Metapher gedacht. Ich wünsche jedem Menschen einen Menschen, der einem zeigt, was alles in einem steckt. Auch wenn ich sehr schmerzhaft erfahren musste, was alles in mir steckt – ich bin ich für jede Erfahrung dankbar, die mich zu der gemacht hat, die ich jetzt bin.

—- Und hier könnt Ihr Aylins ersten Beitrag noch einmal lesen: Meine Reise mit Johanna – wie ich von meinem Kind Abschied nahm


7 comments

  1. Liebe Aylin, schön wieder von dir zu hören. Wir hatten vor ein paar Jahren schon mal geschrieben- da ging es um ein MapaPu.
    Ich wünsch dir weiterhin von ganzem Herzen alles Gute. 🍀😘
    Liebe Grüße
    Ana

  2. Gedanken an Aylin und Johanna…
    Liebe Aylin!
    Darf ich dir eine private Nachricht schreiben oder kann die Redaktion von stadtlandmama einen Kontakt herstellen?
    Lg Lilli Schülke

  3. Danke
    Liebe Aylin,
    Danke fürs Teilen. Danke.

    Kennst Du den Blog 22monate.de?
    Ich denke, dass es gut tut den zu lesen. Ein Ähnliches Schicksal.

    Liebe Grüße
    Anna

  4. Alles erdenklich Gute für deinen Weg
    Liebe Aylin,

    ich wollte eigentlich schon zu deinem ersten Text etwas schreiben, etwas Tröstendes, aber ich konnte keine Worte finden. In jeder Zeile, in jedem Foto fühlt man so viel Liebe und so viel Schmerz.

    Und bei zu viel Schmerz ist es doch so, dass wir alle unsere Coping-Mechanismen entwickeln, um irgendwie weiterleben zu können. Du hast dir bei weitem nicht die schlechtesten ausgesucht und sie hatten eine wichtige Rolle – dir zu helfen durchzuhalten. Das hast du nun geschafft, jetzt kannst du sie loslassen. Was geschehen ist, ist geschehen.

    Ich glaube auch, dass deine innere Stimme nicht gänzlich weg war, denn direkt als du Johanna gesehen hast, wusstest du doch, dass sie führen würde und du mit ihr kämpfst. Und das hast du gemacht, für deine Tochter hast du gekämpft wie eine Löwin, wie die beste Mutter, die deine Kinder sich nur wünschen könnten.

    Du warst immer für sie da, du hast sie ihren ganzen Weg lang begleitet. Was für ein Geschenk! Und du bist nicht daran zerbrochen – sondern gewachsen und hast dir von ihr auch als ihr letztes Geschenk deinen Weg zeigen lassen.

    Ich wünsche dir alles erdenklich Gute.

    1. Vielen vielen Dank!
      Liebe Sonja, vielen Dank für deine Worte – sie haben mich sehr berührt und ich merke Mal wieder, es war richtig. Vielleicht nicht einfach und nicht immer der beste Weg, aber am Ende bin ich doch ans Ziel gekommen!

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