Mein wunderbares schüchternes Kind: Inke Hummel über Mut, Selbstvertrauen und liebevolle Begleitung

Zurückhaltendes Kind

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Ihr Lieben, unsere KInder haben alle ihre eigenen Charaktere – sie sind grundverschieden und stellen uns manchmal vor Herausforderungen. Natürlich vor allem, weil wir das Beste für sie wollen. Darum neigen wir dazu, schüchteren Kinder auch mal zu drängen. Oder uns zu sorgen.

Weeil Schüchternheit eben auch Nachteile bringen kann. Inke Hummel versucht, uns Eltern Mut zu machen in der liebevollen Begleitung unserer schüchternen Kinder.

Denn auch zurückhaltendere Kinder sind einfach wunderbar. Das besagt auch schon der Titel des neuen Buches der renommierten Autorin und Familienbegleiterin: Mein wunderbares schüchternes Kind: Mut machen, Selbstvertrauen stärken, liebevoll begleiten.

Wer zu zurückhaltenden Kindern recherchiert, findet Artikel wie diese: „Wie schüchterne Kinder selbstbewusster werden“. Klingt für mich schon nach: Es ist ein Makel, der verändert werden muss. Was sagst du als Expertin dazu?

Einerseits gebe ich Dir Recht: Ja, Schüchternheit wird ganz oft nicht als neutraler Begriff verwendet, sondern negativ bewertend. Das Kleinkind macht nicht mit bei den Spielen auf dem Kindergeburtstag, der Teenie meldet sich nie im Biounterricht, die Erwachsene tut sich schwer mit Smalltalk – das ist doch falsch, da muss man doch was machen!! Ja, es wird oft als Makel betrachtet.

Andererseits steckt in der Überschrift des erwähnten Artikels auch ein typisches Missverständnis: „Selbstbewusst“ setzen wir landläufig gleich mit „laut, mutig, Rampensau“. Im eigentlichen Sinne aus Blick der Entwicklungspsychologie bedeutet er aber „seine eigene Persönlichkeit gut kennen und mit ihr zuversichtlich umgehen“ – sich seines Selbst bewusst sein. Das ist natürlich ein Entwicklungsziel, das für jeden Menschen gesund ist: Wenn ich weiß, was mich ausmacht und was ich brauche, kann ich passende Strategien entwickeln, um mit meiner Persönlichkeit mein Leben gut zu bestreiten.

Das gängige Auffassen des Begriffs im Zusammenhang mit Schüchternheit und „Da muss man doch was tun!!“ ist hingegen definitiv problematisch. Denn natürlich muss nicht jedes zurückhaltende Kind dahingehend verbogen werden, dass es die Hauptrolle im Schultheater will und sich freiwillig für jede Referat meldet.

Nun impliziert der Titel deines neuen Buches, dass Kinder schüchtern UND wunderbar sein können. Und natürlich ist das klar – und trotzdem tut es Eltern gut, das mal so zu lesen… wolltest du bewusst einen Mutmacher schreiben?

Genau, aus den oben erklärten Erfahrungen heraus wollte ich Mut machen: Eltern müssen sich nicht fürchterliche Sorgen machen und große Pläne zur Veränderung ihres Kindes ausarbeiten, nur weil ein Großonkel sich beschwert, dass es ihm nicht die Hand geben mag oder der Kindergarten zurückmeldet, dass es ständig nur allein im Sand seine Burgen bauen will.

Diese Familien landen nämlich sehr oft bei mir in der Beratung und sind sehr verunsichert. Müssen wir etwas tun? Verpasst unser Kind eine Chance, wenn wir uns jetzt nicht engagieren? Wer hat denn Recht? Das treibt die Eltern um, und da gucke ich mit ihnen hin – in der Beratung oder jetzt auch im Buch.

Nun haben es die leiseren Kinder aber ja wirklich manchmal auch schwerer in einer Welt, in der es um Aufmerksamkeit geht. Wer auf dem Fußballplatz lauter „AUA“ schreit, kriegt eher einen Freistoß, wer im Unterricht öfter aufzeigt, kriegt bessere Noten… natürlich macht das dann etwas mit dem Selbstbewusstsein des stilleren Kindes – und zieht sich vielleicht noch mehr zurück, oder?

Ja, das ist der Punkt: Das schüchterne Kind bekommt oft zu spüren, es sei irgendwie „falsch“ – übrigens genauso wie beispielsweise das gefühlsstarke Kind. Die Kinder, die irgendwie auffallen, deren Begleitung irgendwie mehr Mühe macht, die nicht als 08/15-Kind ins System passen, die spüren ganz schnell die defizitären Blicke und Worte der anderen.

Hier möchte ich die Eltern stärken, um zu erkennen, was vielleicht wirklich ein Problem ist, aber auch was einfach so bleiben darf an ihrem Kind. Grundsätzlich ist es aber natürlich auch ein gesellschaftliches Thema: Die Spannbreite an Temperamenten, die als „normal“ gilt, ist im allgemeinen Verständnis immer noch viel zu klein gefasst!

Mein wunderbares schüchternes Kind: Mut machen, Selbstvertrauen stärken, liebevoll begleiten

In unserem Alltag „stören“ immer einige Eigenschaften, egal welches Temperament jemand hat: Übermut ist toll rund um Kreativität, aber „Bitte jetzt mal leise“! Und Schüchternheit ist eben gut, wenn Dinge ganz in Ruhe angegangen werden, aber „Bitte jetzt mach doch mal voran!“ – Lästige Perfektionsgedanken.

Das ist ein wichtiges Thema, für dessen Veränderung unser Verein Bindungs(t)räume sowie ja auch Autorinnen und Autoren wie Nora Imlau, Katja Seide, Danielle Graf, Susanne Mierau oder Herbert Renz-Polster eintreten – die fast alle Vereinsmitglieder sind.

Wie gehe ich damit um, wenn ich ein schüchternes und ein sehr aufgewecktes Kind habe und das leisere immerzu unterzugehen scheint hinter dem Leuchten des lauteren, selbstbewussteren Geschwister?

Das ist auch ein Thema im Buch, denn das trifft man natürlich häufig an. Hier kann man einige bewusste Veränderungen im Alltag angehen, die dem schüchternen Kind mehr Redemöglichkeiten, mehr 1:1-Zeiten, in denen es echt gesehen wird, und auch mehr Chancen, kleine Herausforderungen zu meistern, gegeben werden. Und insgesamt soll das Buch natürlich dabei stärken, dass sowohl das Kind als auch die Eltern spüren, was alles Großartiges im leiseren, vorsichtigeren Kind schlummert, um es für all diese Alltagssituationen gut aufzustellen.

Wo siehst du die Kraft von schüchternen Kindern und Menschen?

Ich habe mich im Vorfeld des Schreibens mit vielen Experten und Expertinnen ausgetauscht. Spannend fand ich hier den Blick von Diplompsychologe Christian Bock: Schüchternheit ist nämlich nicht „sich nicht trauen“, sondern vor allem „gut abwägen, langsam machen, erst einmal bewerten“. Und das ist in vielen Fällen ja großartig!

Wer ein übermütiges Kind hat, das immer sofort auf jedem 5 m hohen Baum hängt oder ohne groß zu gucken zwischen die parkenden Autos rennt, weiß das Zögerliche sicher zu schätzen. Wenn ein schüchterner Mensch lernt, diese Art anzunehmen und gut zu händeln anstatt sich ganz ausbremsen zu lassen, ist das eine Superkraft!

Kommen wir mal zu einer typischen Alltagssituationen: Die Tante hat einen Kuchen gebacken, das Kind hätte gern ein Stück, traut sich aber nicht, hinzugehen, um es sich zu holen. Wie begleite ich das als Mama oder Papa adäquat?

Hier ist grundlegend wichtig zu sehen, ob das immer wieder passiert, das Kind also echt gehemmt ist in seinem Tun und darunter leidet. Passiert das nur mal, kann ich ihm helfen, aber passiert das immer wieder, ist es nicht clever, wenn ich ständig übernehme. Dann bremse ich Entwicklungschancen aus.

Was ich dann konkret tun kann, hängt vom Alter des Kindes ab: Bei jüngeren kann ich eher situativ reagieren und mit ihm gemeinsam die Situation lösen – also hingehen, ermutigen, gemeinsam Worte finden. Bei Älteren so ab 4 oder 5 Jahren kann man dann schon immer mehr unterstützen und im Vorfeld oder auch im Nachhinein überlegen, was Angst macht, was helfen würde, wo man üben könnte usw. Ziel ist es immer, das Kind selbst aktiv zu machen. Es lernt nichts, wenn wir ständig übernehmen.

Ab wann sollte ich mir den Sorgen um mein schüchternes Kind machen? Wenn es auf dem Schulhof immer alleinsteht?

Dazu gibt es sehr konkrete Checklisten im Buch, die mit den Lesern und Leserinnen abklopfen, ob die Schüchternheit nur gefühlt ein Thema ist oder ob es wirklich viele Situationen gibt, indem das Kind nicht zurechtkommt – und auch, ob eventuell ein Experte hinzugezogen werden sollte oder nicht (meistens ist es nicht nötig!).

Der wichtigste Punkt ist aber: Leidet das Kind? Oder ist es wie hier im Beispiel gern allein in den Pausen, um Kraft für den Unterricht zu tanken? Wir sind viel zu schnell dabei, unser Gefühl als Bewertungsmaßstab zu nehmen.

Menschen, die früher keinen Ton vor Gruppen rauskriegten, werden als Erwachsene Entertainer oder Speaker – für wie wahrscheinlich hältst du solche 180-Grad-Wendungen? Meinst du, Schüchternheit ist eine Veranlagung oder kann sie nachhaltig überwunden werden? Und wie viel davon haben wir selbst in der Hand?

„Überwunden“ finde ich nicht ganz passend: Das Temperament bleibt das Temperament. Aber – und damit sind wir wieder beim Anfang unseres Gesprächs – „seine eigene Persönlichkeit gut kennen und mit ihr zuversichtlich umgehen“, sich seines Selbst bewusst sein ist Entwicklungsziel und erlernbar.

Das bedeutet es wäre sehr geglückte Entwicklung, wenn ich als Erwachsener (und möglichst schon früher) genau für mich herausfinden kann, ob ich heute vor der Bühne in Reihe 3, hinter der Bühne versteckt oder auf der Bühne stehen mag und das dann jeweils den anderen kundtun und in kleinen Schritten erreichen kann.

Denn natürlich kann es sein, dass auch ein schüchterner Mensch Lust auf Präsentieren hat. Er oder sie braucht nur einfach ein bisschen mehr Planung, Zeit und Sicherheit als andere. Und das ist erlernbar.

Hier geht´s zum Buch: Mein wunderbares schüchternes Kind: Mut machen, Selbstvertrauen stärken, liebevoll begleiten


4 comments

  1. Ich habe als Kind von meinen Eltern über mich auch oft den Satz „Sie ist eben ein bisschen schüchtern“ gehört. Meist in Gegenwart anderer Erwachsener und immer mit so einer entschuldigenden Konnotation. Dadurch, dass solche Aussagen über mich immer wieder kamen, setzte sich bei mir schon ein Stück weit die Haltung fest, „So, wie ich bin, bin ich nicht in Ordnung“. In Situationen mit meinen Eltern und anderen Erwachsenen fühlte ich mich von meinen Eltern ständig beobachtet und bewertet. Heute denke ich mir, sie hätten doch auch zu mir als Kind sagen können, „Wenn uns Freunde besuchen kommen, dann schauen wir ihnen bei der Begrüßung ins Gesicht und sagen Hallo“ – das wäre eine klare Anleitung gewesen, die sich nicht negativ auf meine Person bezogen hätte, so wie „Sei nicht wieder so schüchtern wie beim letzten Mal und begrüße den Besuch ordentlich“
    Ich habe den Eindruck, dass sehr viele Eltern vor Stolz fast platzen, wenn ihre Kinder – vor allem die Töchter – selbstsicher und extrovertiert sind. Und dass es manchen richtiggehend unangenehm ist, wenn ihr Kind z.B. auf dem Spielplatz sich nicht kontaktfreudig verhält.
    Ja, die Rampensäue fahren oft den Applaus ein, aber irgendwie verstehe ich trotzdem nicht, warum leisere Kinder oft automatisch als irgendwie defizitär eingeschätzt werden.

    1. Rampensäue finde ich sehr krass gesagt…

      Nun denn. Ich war ein ruhiges Kind und wurde aufgrund dessen sehr von Erwachsenen gemocht, weil die meisten Erwachsenen damals nicht mit wilden Kindern umgehen konnten und diese sehr oft als unerzogen empfunden. Gleichzeitig war es so, dass die Erwachsenen über mich in meiner Anwesenheit reden konnten und sich beschwerten, wie ich so tickte. Schüchtern wie ich war, bekam ich kein Wort raus und ertrug jahrelang von meinen Familienmitgliedern Erniedrigungen, ich wäre seltsam, ein komisches Kind. Es verletzte mich und ich dachte stets, ich wäre falsch.

      Nun habe ich seit über vier Jahren eine Tochter. Diese Mausemaus ist das Gegenteil von mir. Sie wehrt sich, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt und ist wild. Sie schließt schnell Freundschaften, tobt wie eine Junge, streitet mit ihren Freunden und Cousin/Cousine und seit einiger Zeit provoziert sie. All das kommt bei den Müttern sehr schlecht an. Mich ärgert es, dass meine Tochter nicht ansatzweise so ist wie ich es war. Auch heute noch werden ruhige Kinder bevorzugt und als erzogen gehalten, wilde Mädchen nicht gerne gesehen. Man unterstellt mir teilweise zwischen den Zeilen, ich würde mein Kind nicht erziehen. Doch dem ist nicht so. Sie ist vollkommen wie ihr Vater. Der war als Junge frech wie Oskar, wild und frei. Dinge, die meine Schwiegermutter mir stets weit vor der Schwangerschaft mit unserer Tochter erzählte. Man kann sein Bestes versuchen und geben, aber Genetik und Einfluss von anderen bilden ebenso den Charakter.

      Ich ärgere mich immer, wenn meine Maus sich zu wild benimmt. Vor allem andere Mütter sind der Grund, warum ich mein Kind in dem Moment nicht so annehmen kann, wie es ist. Das Tuscheln, die unfairen Spitzen und das Nichtsehen der wunderbaren Eigenschaften meiner Kleinen ärgern mich. Ja, sie ist wild, jedoch ist sie auch voller Liebe, zeigt diese, freundet sich gleich an und geht auf die Schüchternen zu und integriert sie. Sie ist hilfsbereit und teilt. Aber wehe, sie schubst. Dann ist das Schimpfen gleich angesagt. Meine Schwägerin ist ein Paradebeispiel dafür. Furchtbar. Jede Mama möchte, dass ihr Kind woanders gut angenommen wird. Trotzdem werden die Kinder, die nicht so ticken wie es Erwachsene wollen, ausgeschlossen und minder gemocht. Und ich wette, dass der Großteil genauso denkt wie meine Schwägerin. Die eigenen Kinder werden für Engelchen gehalten, die noch lernen müssen und die anderen Kinder sind immer die, die nicht anständig erzogen worden.

  2. Danke für diesen Text, damit konnte ich viel anfangen. Eins meiner Kinder ist auch oft ruhig, zurückhaltend und abwägend. Da ich selbst eher ‚laut‘ und direkt bin und mich auch leichter zu solchen Temperamenten hingezogen fühle bzw. Zugang finde, stehe ich manchmal etwas hilflos vor diesem natürlich wunderbaren Kind oder verhalte mich wie ein Elefant im Porzellanladen… Aber Selbstbewusstsein im Sinne von sich seines Selbst und seiner Persönlichkeit bewusst sein/werden finde ich sehr verständlich und gut greifbar/begleitbar.

    1. Hi, hi das kenne ich eins zu eins! Wir haben einen Jungen, der auch sehr aufgeweckt und wild ist. Aber eben auch ein toller Unterhalter, Entdecker und Forscher. Meine Schwägerin hat als erstes Kind ein introvertiertes Mädchen. Z. B. fand sie es Völler normal mit 1-2 jährigen Kindern an der Elbe zu picknicken… meine Nichte saß ja auch brav auf der Decke, nur mein Mann und ich waren ständig in Aktion, weil unser Sohn immer neue spannende Dinge am Ufer entdeckte. Was bekamen wir für seltsame Ratschläge, unser Sohn braucht Struktur und Rituale, da würde er ruhiger werden. Nee, er braucht bis heute (jetzt 10) einfach Bewegung und Austausch. Dann bekamen wir ein recht sensibles Mädchen, was sich am wohlsten direkt in unserer Nähe fühlt. Sie geht bis heute (jetzt 7) nicht gerne auf andere zu, beobachtet lange abwartend und tobt nur ausgelassen herum, wenn sie sich sicher fühlt (z. B. in unserer Sichtweite oder mit ihrem Bruder). Meine Schwägerin hingegen bekam einen Jungen, der gerne seiner Wege geht, schon mit 1,5 in kurzen unbeobachteten Momenten weg lief und recht schnell zuschlägt, wenn ihm etwas nicht passt. Er macht die Dinge, wie er will und lässt wenig mit sich reden… Nun könnten wir schlaue Ratschläge geben. Aber wir lehnen uns zurück und genießen… Was will ich damit sagen: Man sollte die Kinder nehmen, wie sie sind. Wir als Eltern können nur begleiten, den Rahmen schaffen. Und was im Zusammenlben mit dem einen Kind funktioniert, muss beim nächsten nicht genau so sein.

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