Ich verlor fünf Kinder, bevor ich endlich meine Tochter in die Arme schließen konnte

Liebe Anette, Du hast zwei Töchter – aber bevor Deine Töchter zur Welt kamen, hast Du insgesamt fünf Kinder verloren. Kannst Du mehr darüber erzählen? 

Mein Mann und ich haben im Januar 2008 geheiratet, kurz darauf hielt ich auch schon einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand. Ich hatte die ersten fünf Monate eine stark ausgeprägte Übelkeit, aber ich war absolut sorglos, als das erste Trimester vorbei war. 

In einer Nacht, Ende der 20. Schwangerschaftswoche, hatte ich plötzlich starke Kopfschmerzen und Oberbauchschmerzen, musste mich mehrfach übergeben. Morgens fuhr ich gleich zum Frauenarzt, . der stellte fest, dass der (sonst immer sehr niedrige) Blutdruck erhöht war und dass vermehrt Eiweiß im Urin war. Das sei aber kein Grund zur Sorge, hieß es. Und so vergingen die Wochen. Es machte mich etwas stutzig, dass ich immer noch keine Kindsbewegungen spürte. In der 23. Schwangerschaftswoche war dann Feindiagnostik, dort sagte der Gynäkologe die unfassbar unsensiblen Worte: "Ich sehe hier nur noch Knochensalat.." 

Für uns brach eine Welt zusammen. Wir wurden ins Krankenhaus überwiesen, wo man den Verdacht bestätigte – allerdigs deutlich sensibler. Das Krankenhaus ging sehr gut mit uns um, die leitende Chefärztin war einfach wundervoll. Ich bekam die Wehentabletten und einige Stunden später habe ich meine Tochter still zur Welt gebracht. Bei der Nachuntersuchung hieß es, unser Fall sei ein tragisches Unglück gewesen und wir könnten versuchen, wieder schwanger zu werden, wenn wir uns bereit dafür fühlen. Und so wurde ich zwei weitere Male schwanger, beide Babys gingen aber in der 6. Schwangerschaftswoche ab. Ich war fix und fertig. 

Du bist Anfang 2009 wieder schwanger geworden. 

Ja, und diesmal hatte ich das Gefühl, dass es klappen könnte. Bis ich in der 11. Schwangerschaftswoche wieder einen Gynäkologen-Termin hatte. An diesem Tag wurde festgestellt, dass unser kleines Baby nicht mehr lebte. Ich konnte meine Tränen nicht zurück halten. Und auch die Ärztin weinte mit. Sie überwies mich ins Krankenhaus, wo die Ausschabung vorgenommen wurde. Mein Mann und ich waren am Boden zerstört. Doch auch dieses Mal hieß es, man wisse nicht, was die Ursache dafür sei und wir sollten einfach weiter machen. 

Und Ihr habt ja auch einen neuen Versuch gewagt….

Ja, Anfang 2010 war ich wieder schwanger. Als wir die ersten 12 Wochen überstanden hatten, war ich schon erleichtert. Und als die 23. Woche vorbei war, war ich richtig froh. Es hieß, alles sei in Ordnung, der Junge sei zwar zierlich, aber wochengerecht entwickelt. Ich spürte Kindsbewegungen, alles schien ok. In der 26. Schwangerschaftswoche bekam ich allerdings Wassereinlagerungen und der Blutdruck stieg wieder. Da der Sommer sehr heiß war, hieß es, das käme von den hohen Temperaturen.

Aufgrund unserer Geschichte hatten wir uns ein Gerät gekauft, mit dem man die Herztöne seines Babys suchen und hören kann. Wann immer ich einen Panikanfall bekam, legte ich das Gerät auf und vergewisserte mich, dass das Baby noch lebt. In der 27. Schwangerschaftswoche konnte ich plötzlich keine Herztöne mehr finden. Und auch die Hebamme, die ich alarmiert hatte, konnte nichts mehr feststellen. Wir fuhren ins Krankenhaus und bekamen dort das bestätigt, was wir längst wussten: Unser Sohn war tot. Einen Tag brachte ich unseren Sohn zur Welt. Er wurde gewaschen, angezogen und wir hielten ihn lange im Arm. Wir konnten uns würdevoll von ihm verabschieden.

Diesmal war aber klar, dass es nicht nur ein tragischer Einzelfall ist..

Genau. Wir bekamen einen Termin beim Humangenetiker und erfuhren, dass es ein Muster gab. Beide Plazenten waren durchzogen von Infarkten.  Während ich in der ersten Schwangerschaft wohl ein sogenanntes HELLP Syndrom hatte, war es hier eine Präeklampsie mit akuter Plazentainsuffizienz. Man nahm mir Blut ab, ein paar Wochen später teilte mir der Humangenetiker mit, dass ich wohl eine  Gerinnungsstörung, ein sogenanntes Anti-Phospholipid-Syndrom, habe. Unbehandelt würden 90 Prozent der Schwangerschaften so enden wie meine. Es tat gut, endlich einen Befund zu haben.

Nach all diesen Erlebnissen – woher hast Du noch die Kraft genommen und weiterhin an ein Kind geglaubt?

Mein Mann und ich hatten einfach den tiefen Herzenswunsch nach einem Kind. Und außerdem haben wir beide einen Dickkopf. 

Wie ging es dann weiter?

2012 wurde ich wieder schwanger und seltsamer Weise kann ich keine Angst. Ich schätze, ich habe mich einfach ein Stück abgekapselt. Wir haben jede Stichwoche, also die 23. und die 27. überstanden, waren aber sehr viel in ärztlicher Behandlung. In der 33. Schwangerschaftswoche wurde ich dann wegen Bluthochdruck und Wassereinlagerungen ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte machten schnell klar, dass wir kein Risiko eingehen würden, ich bekam die Lungenreifespritzen. Eines Abends wurde das CTG schlecht und so wurde meine Tochter in der 34. Schwangerschaftswoche per Notkaiserschnitt geholt. Ich war aufgeregt, aber irgendwie auch erleichtert, dass sie nun raus kommt. Ich war mir sicher, dass man sich "draußen" besser um sie kümmern kann. Und so kam es auch. Heute ist meine Tochter kerngesund und wird dieses Jahr eingeschult. 

Du bist dann wieder schwanger geworden, aber auch die Schwangerschaft mit Deiner kleinen Tochter war nicht ohne Komplikationen, oder?

Das stimmt, ich hatte eine Ringelrötel-Infektion und viele Wochen Blutungen. Ich hatte ständig Angst, dieses Kind auch zu verlieren. Deshalb habe ich mich für einen geplanten Kaiserschnitt mit anschließender Sterilisation entschieden. Ich wollte nur noch unser 2. kleines Wunder im Arm halten und dann nie wieder durch so eine belastende Schwangerschaft gehen müssen. Im August 2018 wurde unsere Kleine dann auf die Welt geholt.

Wie hat sich Eure Partnerschaft durch all diese Erlebnisse verändert?

Unsere Partnerschaft ist so tief – ich kenne keine tiefere. Wir spürten schon immer eine tiefe Verbindung zueinander, aber mit jedem Schicksalsschlag wurde diese Verbindung nur noch tiefer. Mir haben viele Männer gesagt, dass sie das alles nicht mitgemacht hätten. Mein Mann ist geblieben. Und die Liebe und Zuneigung ist größer denn je.

Was fühlst du heute, wenn du deine beiden Mädchen siehst?

Ich fühle bei dem Anblick meiner beiden Kinder eine tiefe Liebe. Wir haben so hart gekämpft und wenn ich die beiden sehe, dann weiß ich, dass es richtig war. Auch wenn uns viele hier in unserem kleinem Örtchen für verrückt gehalten haben, weil wir nicht aufgegeben haben…

In der Zeit, in der Du die Fehlgeburten hattest, welche Sätze von Außenstehenden haben dich da verletzt?

Es gab tatsächlich einige Menschen, von denen wir glaubten, sie seien Freunde, die sich abgewendet haben. Ich habe natürlich auch einige der typischen Sätze gehört: 

"Es war doch noch kein richtiges Kind", "Seid froh, dass es jetzt passiert ist und nicht später", "Dann macht ihr halt ein neues Kind", "Ihr seid noch jung".

Dabei kann eben niemand DIESES Kind ersetzen und natürlich war dieses Kind bereits UNSER Kind und für uns ein richtiges Kind. Mittlerweile bin ich nicht mehr wütend über diese Sätze. Sie stammen von Unwissenden. Und niemand, der nicht selbst sowas erlebt hat, kann den Schmerz nachvollziehen.

Was hast Du über Dich selbst in dieser schweren Zeit gelernt?

Ich weiß jetzt, wie stark ich sein kann. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich all das überstehen kann. 

Wie würdest du dich selbst als Mutter beschreiben?

Ich liebe jede Sekunde mit den Kindern und koste sie aus. Wahrscheinlich lasse ich auch ein paar Sachen mehr durchgehen, weil ich viele Jahre dachte, ich würde solche Momente nie erleben dürfen. Ansonsten bin ich wahrscheinlich eine eher ängstliche Mutter. Ich muss lernen loszulassen. Daran arbeite ich.  Ich war ein Jahr in einer Gesprächstherapie und dort ist mir vieles bewusst geworden. Ich kann und werde meine Kinder natürlich immer unterstützen und stärken. So wie jede liebende Mutter. In diesem Jahr steht die Einschulung an. Ich bin etwas nervös, aber wir werden auch diese neue Phase meistern.

Was möchtest du anderen Müttern, die Fehlgeburten hatten, sagen?

Es lohnt sich definitiv zu kämpfen. Wenn der tiefe Wunsch nach einem Kind da ist, dann haltet daran fest. Informiert euch selbst, sucht euch gute Ärzte, mit denen ihr auch offen über alles reden könnt,  und die ihr befragen könnt, wenn Unklarheiten bestehen. Und begreift, dass ihr nicht die Schuld tragt für das, was passiert ist. Es war für mich ganz wichtig, das zu erkennen.

 

Foto: Pixabay

 

 


4 comments

  1. Du bist unheimlich stark
    Danke das du deine Geschichte teilst. Du bist unheimlich stark. Schön das es ein Happy End gab und du nun eine wundervolle Familie hast.
    Ich selber habe vor wenigen Tagen meine 2. FG erlebt. Ich bin immernoch am Boden zerstört. Im September 2018 haben wir unseren Sohn in der 23. Ssw verloren. Im April diesen Jahres bin ich wieder schwanger geworden und in der 9. Ssw ist leider unser Kleines verstorben. Ich muss ehrlich gesagt sagen, dass ich unheimlich Angst vor einer erneuten Schwangerschaft habe und Angst nie ein gesundes Baby in den Armen halten zu dürfen,doch der Wunsch ist so groß. Wir werden es auch weiter versuchen. Deine Geschichte macht wirklich Mut.

  2. Vielen Dank…
    dass Du uns an deiner Geschichte teilhaben lässt! Auch ich habe zwei Fehlgeburten hinter mir und ich muss Dir recht geben: Ich glaube dass man nicht nachvollziehen kann, wie man ins Bodenlose stürzt, wenn man erfährt, dass das Herzchen nicht mehr schlägt, wenn man es nicht selbst erlebt hat! Dennoch niemals aufgeben!
    Heute bin ich Mutter zweier gesunder Jungs und sehr sehr dankbar für beide. Alles Gute für Dich und Deine Familie!

  3. Anette du bist eine starke
    Anette du bist eine starke Frau!!
    Ich bewundere deine Stärke. Ich habe selber zwei Fehlgeburten hinter mir. Habe einen gesunden Sohn von drei Jahren und über jede Sekunde mit ihm bin ich froh. Man kann sowas schwer ertragen aber wenn der Wunsch nach einem Kind stärker ist wächst man über sich hinaus.

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