Hochsensible Kinder: Modeerscheinung oder ernsthafte Diagnose?

Liebe Mira, lieber Deva, ihr habt ein Buch über den Umgang mit hochsensiblen Kindern geschrieben: Alle Antennen auf Empfang (Affiliate Link). Wie genau definiert ihr denn hochsensible Kinder?

Eigentlich definieren wir hochsensible Kinder als jene Kinder, die die Hochsensibilität, die uns Menschen eigentlich in die Wiege gelegt wird, nicht verlernt bzw. abtrainiert haben. Denn durch die vielen Reize in der heutigen, schnellen, grellen Welt verlagern viele Menschen schon von Kindheitstagen an ihr Reizübertragungslevel an den Synapsen, um ein nicht unrelevantes Stück nach oben. Die Synapsen sind also bei vielen Kindern schon sehr angepasst an das Umfeld.

Könnt Ihr Beispiele nennen, die typisch sind im Leben mit hochsensiblen Kindern?

„Mein Kind spürt, was andere Kinder im Bauch für ein Gefühl haben!“

„Mein Kind isst nur ein bestimmtes Nahrungsmittel“

„Mein Kind ist nicht innenstadttauglich“

„Mein Kind lässt sich durch kleinste Reize in der Schule ablenken!“

„Mein Kind bekommt, wenn es sich überfordert fühlt, immer gleich Fieber!"

Das sind Sätze, die wir selbst gut kennen, die aber auch oft an uns herangetragen werden.

Vor welchen besonderen Herausforderungen stehen denn Eltern hochsensibler Kinder?

Oft fühlen sich die Eltern wie Aussätzige, weil ihr Kind sich so „seltsam“ verhält. Das Gefühl wird noch dadurch verstärkt, dass viele Erziehungsbeauftragte in Kindergärten und Schulen noch wenig bis gar keine Schulungen zum Thema Hochsensibilität erhalten haben. Es gibt inzwischen plausible und gut nachvollziehbare Studien zum Thema, die leider noch nicht an die Menschen durchdringen. Sie zeigen beispielsweise den Unterschied zwischen ADS und Hochsensibilität auf.

Auch der Umgang mit Foren, in denen hochsensible Kinder ganz schnell zu Wunderkindern oder sogenannten „Kristallkindern“ erklärt werden, ist nicht leicht. Die esoterische Ecke gibt den Eltern ein wenig mehr Stolz, hilft aber keineswegs im Umgang mit Hochsensibilität. Zudem sind Kinder einem unfassbaren Druck ausgesetzt, wenn sie ständig zu hören bekommen, dass sie einer Gruppe Menschen angehören, die mal die Welt retten sollen. Da sind Enttäuschungen im Bezug auf sich selber für die Heranwachsenden schon vorprogrammiert.

Braucht es denn einen anderen Alltag für hochsensible Kinder?

Nein, ganz im Gegenteil: denn als Erwachsene sind diese Kinder ja auch nicht in einem geschützten Raum. Viel eher sollten die Eltern ihre Kinder dabei begleiten, im ganz normalen Alltag Strategien aufzubauen, die dabei helfen, den überlasteten „Arbeitsspeicher“ zu bereinigen, zu entspannen und wieder aufnahmefähig zu sein. Wenn das gelingt, sind sie später einmal hochsensible Erwachsene, die ihre Hochsensibilität in vielen Bereichen als Begabung nutzen können.

Aber ganz konkret: Wie können hochsensible Kinder in Kita und Schule zurechtkommen?

Zum einen, indem Lehrer und Erzieher sich informieren. Wir zeigen in unserem Buch einige Ideen auf, wie hochsensible Kinder sich selber vor Überreizung schützen können. Wenn die Lehrer diese auch kennen, kann zum Beispiel daran erinnert werden.

Was jedoch unabhängig von der Selbstfürsorge des Kindes in Schulen und Kindergärten wirklich hilfreich wäre, wäre die Möglichkeit, einen reizarmen Raum für einige Minuten aufsuchen zu können.

Und: Hochsensible Kinder sollten zu Hause möglichst wenig Rundumbeschallungen von Fernsehen und Radio ausgesetzt sein. So können sie sich von den Reizen des Vormittages in Ruhe zu Hause verarbeitet werden.

Nun werfen Kritiker ein, dass das "auch wieder nur eine neue Modeerscheinung an Diagnose" ist. Wie reagiert ihr darauf?

Diese Kritiker haben nicht in allen Punkten „Unrecht“. Es ist in der Tat insbesondere in den letzten zehn Jahren mit einem Mal „aufgetaucht“ und in den Medien zu finden. Wir sind der Meinung, dass dies an zwei Faktoren liegt:

Zum einen fallen hochsensible Kinder immer mehr aus der Reihe. Das liegt ganz einfach daran, dass die Überflutung von Reizen in der Welt zu einem Dauerbrenner geworden ist. Hochsensible Kinder kommen damit weniger gut klar.

Aber es war auch zum Beispiel in der Generation unserer Eltern nicht nötig, dass ein Großteil einer ganzen Generation die Reizübertragungsgrenze nach oben setzt. Die Menschen waren damals noch weder Dauerprogrammen im Fernsehen noch Handys ausgesetzt. Auch im Supermarkt lief nicht ständig Musik und Werbung. Und Kinder konnten noch einen Großteil ihrer Freizeit in der Natur verbringen. Natur reinigt unsere Arbeitsspeicher. Und leider ist die Natur nicht mehr für jedes Kind eine Selbstverständlichkeit vor der Haustür.

Punkt Zwei: Gerade im Bezug auf die Verwechslung von Hochsensibilität und ADS / ADHS ist in letzter Zeit ein enormer Wachstum zu registrieren. Und viele Ärzte und Therapeuten kennen den Unterschied schlichtweg noch nicht.

Welchen Tipp würdet ihr Eltern (und Erziehern/Lehrern) hochsensibler Menschen gern mit auf den Weg geben?

Mehr Gelassenheit und weniger Skepsis bei der Frage um die Existenz von Hochsensibilität wären wünschenswert. Man kann neurologisch erklären, was an den Synapsen bei hochsensiblen Menschen anders ist. Auch ein Emporheben hochsensibler Kinder hilft weder ihnen noch ihren Eltern langfristig.

Wenn gemeinsam an den Ressourcen gearbeitet wird, die hochsensible Menschen benötigen, um sich selber zu helfen, würden die Kinder viel weniger Stress ausgesetzt sein. Und dann könnten sich Lehrer und Erzieher Hochsensibilität zu Nutzen machen, indem sie beispielsweise über das hochsensible Kind herausfinden, was in einer Gruppe von Kindern gerade dafür sorgt, dass die Stimmung kippt.

Dieses schöne Beispiel wurde uns von einer Leserin unseres Blogs erzählt und zeigt, dass es sehr hilfreich ist, wenn sich ohne Vorurteile mit der Eigenschaft Hochsensibilität auseinander gesetzt wird.

Zu guter Letzt: Wie kamt ihr denn darauf, das Buch zu schreiben?

Wie kamt ihr darauf?

Deva: Die Idee hatten gar nicht wir selber, sondern der Programmleiter des Humboldt Verlags, der zusammen mit unserer damals noch zukünftigen Lektorin unseren Blog beobachtete. Darin geht es immer wieder sowohl um Miras als auch Viktorias (Miras Tochter) Hochsensibilität und typische Alltagssituationen.

Mira: Als wir uns dann kennenlernten, kam in den Beiträgen Devas Sicht als Familientherapeut hinzu. Diese Mischung war es schlussendlich, die den Verlag dazu brachte, uns im November einfach mal anzurufen und zu fragen, ob wir Lust hätten, ein Buch zu schreiben. Und da musste nicht zwei mal gefragt werden, denn heimlich träumten wir beide schon lange davon – allerdings hatten wir beide völlig andere Sparten im Kopf. Mira: einen Roman, Deva: einen allgemeineren Erziehungsratgeber.

Liebe Mira, lieber Deva, vielen Dank für Eure Antworten!

Wer Interesse am Buch hat: Hier gibt es das zu kaufen: Alle Antennen auf Empfang (Affiliate Link)


9 comments

  1. Meiner Ansicht nach ist
    Meiner Ansicht nach ist Hochsensibilität durchaus eine Modediagnose. Das Phänomen ist weder neurowissenschaftlich, noch psychologisch fundiert nachgewiesen, geschweige denn definiert.
    Die ganzen Bücher sind auch nichts weiter als Ratgeber ohne wissenschaftliche Untermauerung. Und dann haften Eltern das auch noch ihren Kindern an.
    Dabei ist streitig ob viele HSPs selbst denn wirklich welche sind. Da machen Erwachsene, meist Frauen, Tests im Internet, die jeder Laie online stellen kann, es kommt heraus sie seien hochsensibel und gehen dann umher und behaupten überall hochsensibel zu sein. Dann kriegt man von solchen Leuten, wenn man das kritisiert, zu hören was die Wissenschaft dahinter schon für eine Rolle spiele, Hauptsache man fühle es. Ahja… Und solche Mütter diagnostizieren ihren Kindern dann auch noch eine vermeintliche Hochsensibilität.
    Oder aber es laufen Meneschen rum, die sich bei Instagram und Youtube als hochsensibel Labeln, nachdem sie ein paar Bücher gelesen haben. Die wollen halt etwas Besonderes sein. Aufmerksamkeit, nichts weiter.
    Kann ich alles nicht ernst nehmen. Alles nur weiterhin esotherischer Wuwu unter welchem jetzt auch noch Kinder gelabelt werden. Schlimm.

  2. modediagnose
    also ich bleibe bei meiner meinung. hochsensibilität ist eine modediagnose genau so wie adhs. manche eltern schaffen es nicht ihre kinder zu erziehen und erklären dann das verhalten ihrer kinder mit angeblichen krankheiten.

    1. Das ist immer leicht gesagt….
      … wenn man dann aber mitten drin steckt in der Schleife, dann ist es einfach schwierig. Ich behaupte auch, dass ich ein Kind habe mit feinen Antennen. Und über nein Kind bin ich dahinter gekommen, was denn bei mir so los ist.
      Warum ich schneller erschöpft bin, wenn ich in großen Menschenmengen unterwegs bin. Warum es mir oft schlecht ging in engen Räumen, wo viele Menschen sind mit ihren Gefühlen…. wieso ich Gerüche stärker wahrnehme und ein „Fühlmensch“ bin.
      Das alles habe ich an mir entdeckt, durch meinen Sohn.
      Wir nehmen weder Tabletten noch sonstiges und eine Diagnose nenne ich es auch nicht. Es ist einfach eine ERKENNTNIS und es ist doch total schön sich nicht mehr so alleine auf diesem Planeten zu fühlen, der für Sonderlinge nicht viel übrig hat.
      Für jeden Tipp bin ich dankbar, so wie andere vielleicht Rezepte für die Küchenmaschine sammeln.

    2. Es gibt ja etliche
      Es gibt ja etliche hochsensible Kinder, die nicht negativ auffallen. Da ist nun nicht wirklich eine Ausrede der Eltern notwendig:)
      Aber du hast Recht, es gibt nun einmal auch die Eltern, die ihre Sorgen und ihren Scham damit beruhigen wollen, dass sie das schönere Wort nutzen. Deswegen haben wir mit einem Professor die Unterschiede deutlich aufgezeigt, die ein hochsensibles Kind von einem hyperaktiven unterscheiden. Das wissen leider nicht einmal besonders viele Therapeuten oder Ärzte. Und keinem Kind mit ADS / ADHS ist geholfen, wenn man da nicht die richtige Unterstützung bietet, die sich extrem von den Ressourcen unterscheidet, die hochsensiblen Kindern helfen.
      Liebe Grüße:)
      Mira

    3. Anja,

      Anja,
      in der Grundschule vor ca 35 Jahren litt ich häufig unter Migräne. Die Mutter einer Mitschülerin war der Meinung, die sie genau so ihrer Tochter mitteilte, dass Migräne Kopfschmerzen wären, die es gar nicht gibt, die man sich also nur einbildet. Ob diese Mutter mitlerweile von diesem gequirltem Blödsinn abgekommen ist, bleibt nur zu wünschen. Dir, Anja, wünsche ich, dass du dir eine Meinung sparst, solange sie offenbar nicht auf medizinischen Fakten beruht, oder hast du auch so eine „Meinung “ zu zB Krebserkrankungen oder passen die besser in deine gefühlte Meinungswelt? Wenn man sich nicht auskennt, hat man keine Meinung, sondern keine Ahnung.

  3. Danke:-*
    Hey, ganz lieben Dank, es ist uns eine Ehre, in dem Blog zu erscheinen, den wir lange schon lesen und kennen und (insbesondere Mira, die da länger „on board“ ist), für die Leistung nach außen bewundert:)
    Ihr seid super, hört bitte nie auf, so authentisch zu sein, denn das ist heute leider Mangelware unter den vielen myonnnnnen Blogs!

    GlG
    Mira

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