„Mama, wir haben ein Problem.“ Wenn Julian das sagte, dann ging es meist darum, dass die Klassenfahrt längst hätte bezahlt sein müssen, er aber vergessen hatte, den Zettel abzugeben. Diesmal aber war es anders.
Es war der Sommer 2014, die Luft war warm. Katja hatte die Terrassentür weit aufgerissen, stand an der Kochinsel… Sie weiß das noch so genau, weil ab diesem Tag nichts mehr war wie zuvor. „Ich bin ein Mädchen und stecke im falschen Körper.“
Es war nicht so, dass das aus heiterem Himmel kam. Julian hatte immer lieber mit Barbies gespielt, liebte Rosa und Glitzer, sang und tanzte gern, verkleidete sich an Fasching als Hexe, Prinzessin oder Pippi Langstrumpf. Für die Einschulung hatten sie sich auf halblange Haare geeinigt, um Julian den Start zu erleichtern. Aber leicht war es trotzdem nie.
Der schlimmste Sommer, den sie je erlebt hatten
Irgendwann fand Katja einen Zettel, auf dem stand: „Ich wünsche mir, dass mir die anderen Jungs Fußballspielen beibringen – und mich dann auch mitspielen lassen.“ Die härteste Zeit aber kam erst noch, der Sommer 2013, der „schlimmste Sommer“, den sie je erlebt hatten.
Julian war immer ein feinfühliger Junge gewesen, hatte sich verabredet. In diesem Sommer nicht. Julian kam kaum aus dem Zimmer, ging nicht einmal mehr mit den Eltern, dem großen Bruder und der kleinen Schwestern an den See oder ins Freibad, was sie sonst so gern gemeinsam machten.
Und Katja wollte als Mutter natürlich für alle ihre Kinder da sein. Alle spürten, dass etwas nicht stimmte. Katjas großer Sohn hörte Julian nachts im Zimmer neben sich weinen.
Mein Kind ist im falschen Körper geboren
Als nun Julian mit seinen 14 Jahren vor ihr stand und endlich äußerte, was los war, fuhr Katjas Kopf erstmal Achterbahn. Nicht, weil sie nicht hinter ihrem Kind würde stehen können. Sondern weil sie sich als Mutter natürlich den leichtesten Weg für ihre Kinder wünschte. Dieser hier, das wusste sie, würde so leicht nicht werden.
„Ich hatte so viele Ängste. Eigentlich hab ich immer geweint, wenn niemand im Haus war – ich wollte den Kindern das natürlich nicht so offen zeigen“, sagt sie in ihrem Vortrag beim Geile Uschi-Kongress in Köln, der später zu Standing Ovations führte. Sie geht offen mit ihrer Geschichte um. Und ehrlich.
„Ich dachte auch erstmal ganz egoistisch an mich selbst“, sagt sie. „So eine Scheiße, dachte ich, ich wollte doch eigentlich gerade wieder beruflich durchstarten und jetzt wird das wieder nichts…“.
Dazu kam die Angst, nach allen Sorgen, die sie sich in den letzten Jahren bereits gemacht hatten, nun nicht die Kraft zu haben, das alles zusammen mit ihrem Kind, nein, mit ihrer Familie, durchzustehen, denn es bedeutete ja für die ganze Familie einen Einschnitt.
Abschied von Julian: Ein Einschnitt für die ganze Familie
Immer hatte sich der große Bruder vor Julian gestellt, hatte Mitschüler zurückgepfiffen, wenn sie über den „Schwuli“ da unten auf dem Schulhof lästerten. „Hey, das ist mein Bruder!“ Ob sie mit der Geschlechtsanpassung wohl noch warten könnten, bis er Abi hätte? Auch er wusste nicht, ob er das packt, den anderen zu erklären, warum er plötzlich eine weitere Schwester hat.
Katja versuchte die Emotionen aller zu jonglieren – ohne einen Ball fallen zu lassen, was nicht leicht war, denn auch sie kämpfte mit einem großen Abschiedsschmerz.
Als Mutter erträumen wir uns die Zukunft unserer Kinder, stellen uns vor, wie das Leben weiter verlaufen könnte. Sie hatte sich Julian als Mann vorgestellt. Nun war da plötzlich ein schwarzes Loch. Dazu kamen „absurde“ Sorgen und Zweifel, wie Katja heute sagt.
Geschlechtsanpassung? Von Vorwürfen und Selbstzweifeln
Die gingen so weit, dass sie sich fragte, ob sie wohl selbst schuld sei, ob sie wohl in der Schwangerschaft mal die Treppe hinuntergestürzt wäre, ob sie sich falsch ernährt habe. Oder ob sie sich vielleicht zu sehr ein Mädchen gewünscht hatte? Hatte sie nicht.
Und selbst wenn es so gewesen wäre – heute kann sie über diese Gedanken lächeln. Damals aber beschäftigte sie das wirklich. Was einer Mama eben alles durch den Kopf geht, die nur das Beste für ihre Kinder will.
Es begann also ein Marathon an Arztbesuchen, ein Spießrutenlauf mit der Krankenkasse, die eine Bescheinigung eines Psychologen wollte, der Julian schon ein Jahr betreuen sollte, um überhaupt eine Kostenübernahme für einen Psychologen zuzusagen. „Ja, so absurd war das tatsächlich“, sagt Katja.
Ärzte, Psychologen: Der Marathon beginnt
Eine Entscheidung musste recht schnell getroffen werden, denn für Julian hatte eine Wachstumsanalyse eine Körpergröße von 1,97m vorausgesagt. Damit würde er es als Mädchen wohl noch schwerer haben. Also Wachstumshemmer geben? Die gingen aber auch immer mit Hormonen einher, die wiederum ihr Kind unfruchtbar machen würden? Niemand hatte damit gerechnet, dass es einfach werden würde, aber das hier war schon essentiell.
Der Abschied von Julian kam am 29.11.2014, einem Samstag. Am Tag zuvor hatte ihm die Mathelehrerin zwei Stunden eingeräumt, um der Klasse zu erklären, warum er an diesem Tag zum letzten Mal als Junge in der Schule ist – und dass er als Mädchen wiederkommen werde.
Um nicht vor der Klasse in Tränen auszubrechen, hatte er sich alles, was er sagen wollte aufgeschrieben und es vorher seiner Mama vorgelesen. Katja hörte hier zum ersten Mal die ganze 14jährige Geschichte ihres Kindes. Das, was hier passierte, war nur die logische Konsequenz. Es gab keinen anderen Weg. Es war richtig.
Abschied vom Sohn – Neuanfang mit Tochter
„Mama, es tut mir so leid, dass ich dir Julian wegnehme“, hatte er drei Tage vor der geschlechtsangleichenden OP gesagt. Am Samstag ging die ganze Familie noch einmal zusammen auf den Weihnachtsmarkt. Julian sang, begleitet von der Gitarre – und Katja weinte Rotz und Wasser. Es waren die letzten Momente, die sie mit ihrem Sohn hatte. Der Abschied von Julian.
Sie ließ in gehen, ihren feinfühligen, schüchternen Jungen. Und lernte ihre Tochter kennen. Ihr Mädchen, das nun also erst in der Pubertät zu ihr stieß. Das so ganz anders war als Julian. Mutig, extrovertiert, lebensfroh. Und nicht mehr singend. Ein Neu-Anfang.
Transgender, das muss nicht schrill und bunt und laut sein, wie es das Privatfernsehen oft vermittelt. Das lernte die Familie nun, diese Familie, die so zusammenhält, die nach all dem gemeinsam Erlebten jetzt nur noch näher zusammengerückt ist. Denn auch für Transgender darf es keine Schubladen geben.
Endlich angekommen: Vom Happy End!
Manche können nach der OP einfach anfangen, in Ruhe und Frieden glücklich zu sein und endlich ihr richtiges Leben zu leben. Endlich „normal“. Als Katja im Frühjahr 2019 wieder in einem Krankenhaus sitzt, treffen sie im Krankenzimmer auf zwei Frauen. Ihre Tochter erzählt, dass sie jetzt neue Brüste bekommt.
Und statt wie so oft zu erklären, dass sie als Mutter nicht völlig verrückt geworden ist, ihrem 19jährigen Kind eine Brust-OP zu bezahlen und dass das andere Gründe hat, hält sich Katja diesmal zurück und lässt das so im Raum stehen. Weil ihre Tochter in diesem Moment einfach ihre Tochter sein darf. Ohne weitere Erklärungen.
Info: Wer sich Austausch zum Thema wünscht… Bei Facebook gibt es ein Transgender-Forum für Betroffene und Angehörige
10 comments
Ich finde mich in jedem ihrer Worte wieder und bin tief berührt. Unsere Tochter lebt jetzt seit fast vier Jahren als Mädchen und wird im November (erst) acht Jahre alt.
Wenn ich daran denke, was auf sie (und uns) noch alles zukommen wird möchte ich am Liebsten den Kopf in den Sand stecken…
Sie wird immer mehr für ihr Glück kämpfen müssen, als viele andere und ich wünschte mir so sehr, es wäre einfacher.
Respekt
Respekt für diese offene und authentische Schilderung, zu der auch Mut gehört. Mut, weil gerade unter Kinder/Jugendlichen der Umgang untereinander oft heftig ist. Respekt dafür, wie Sie ihrem Kind begegnet sind und beigestanden haben- so sollte es sein. Obwohl selbst Transfrau und wissend um all die Prozesse, ahne ich nur, wie schwer es als Mutter sein muss.
Nebenbei: Ja, Geschlechtsangleichung ist treffender, aber für Menschen ohne Bezug zum Thema doch ziemlich irrelevant.
Toll – aber das wording tut weh
Es kommt total rüber, wie schwierig es für sie war, wie viele Gedanken sie sich gemacht hat, welche Sorgen. Und es berührt, wie sie ihrer Tochter beisteht und sie akzeptiert. Deshalb habe ich Text und Video in trans Gruppen geteilt – und die Reaktion genau der Menschen wie der trans Tochter war einhellig: „Deadnaming“ (der alte, falsche Name) und „Sohn“ tut weh. Die Fixierung auf OPs und Hormone tut weh.
Ich bin der Ansicht, und das war auch das Ergebnis in den trans Gruppen, dass der positive Inhalt und der ganze Tiefgang der Elterngefühle auch ohne das vermittelbar wären, einfach nur mit anderem Wording.
Dann würden wohl mehr trans Kinder dies ihren Eltern zeigen, um ihnen bei der Bewätigung zu helfen.
Weitere Erklärungen
Hey, danke für deinen Kommentar. Das würde ich gern noch besser verstehen. Verschweigen denn die meisten ihre komplette Vergangenheit? Wir reden ja nun einmal darüber, dass da früher Sohn Julian war und heute eine Tochter. Es ist ja nicht so, dass Julian nie existiert hätte. Oder habe ich da etwas falsch verstanden? Und ich sehe auch keine Fixierung auf Hormone (erwähne ich explizit gar nicht) oder die OP. Es geht hier um die Gedankenwelt einer Mama – genauso, wie sie das eben empfunden hat. Den Begriff „deadname“ finde ich in diesem Zusammenhang ehrlich gesagt verstörend, denn Julian hat ja existiert. Aber ich bin eben auch Außenstehende und freue mich da über weitere Aufklärung.
Deadnaming
Lieber Kai, das habe ich mit meiner Tochter so abgesprochen. Aus einem einfachen Grund. Ich wollte nicht immer “mein Kind” sagen und wir wollen ihren jetzigen Namen raushalten. Für sie war das komplett so Ok. Ausserdem ist es für Aussenstehende einfach verständlicher. Auch hätte das Verwendwn von vielen “Insiderbegriffen” niemandem geholfen. Ebenfalls haben wir über den Inhalt gesprochen. Und die größte Angst für Eltern ist, falsch zu entscheiden wenn du einem Minderjährigen Kind einer Hormongabe zustimmst. (Es gibt fälle da wurden Eltern im Nachhinein von ihren Kindern verklagt.) Als Mutter hat man auch Angst dass das Kind nach der geschlechtsangleichenden OP sagt das es ein Fehler war. Vielleicht kannst du das in deine Gruppen tragen.
Mutig
Schade, dass meine Vorgängerinnen sich an Begrifflichkeiten stören. Ich finde die Familie mutig und kann mir vorstellen, dass es für alle eine schwierige Zeit war. Toll, dass sie das gemeinsam gemeistert haben. Alles Gute!
Oh ja..
ALLERDINGS! Wir sind auch sehr angetan vom Umgang dieser Familie mit ihrem Kind.
Geschlechtsumwandlung
Hi es ist immer wieder traurig vom Märchen der Geschlechtsumwandlung zu lesen. Man kann kein Geschlecht umwandeln. Jeder Mensch ist was er ist. Was angeglichen wird ist der Körper an die Seele an das Innere Geschlecht.
Geschlechtsanpassung
Haben wir angepasst. Danke für den Hinweis! Für die Protagonisten war es so in Ordnung, aber da wir einige Hinweise aus der Leserschaft bekamen, haben wir die Begifflichkeit nun geändert.
Ich finde es schade, dass
Ich finde es schade, dass hier der veraltete Begriff ‚Geschlechtsumwandlung‘ verwendet wird. Die Begriffe ‚Geschlechtsanpassung‘ oder ‚Geschlechtsangleichung‘ sind die treffenden.