Gastbeitrag von Anne: Von der schwersten Woche meines Lebens – wie Angehörige mit einer möglichen Abtreibung umgehen

Und dann, ich döste grad im Garten, kam mein Schwager zu mir und riss mich aus meinen Tagträumen. Er müsse mal mit mir reden. Oh je, ich war sofort wach. Nein, nein, er und meine Schwester, sie würden sich nicht trennen oder so, ich sollte jetzt einfach mal kommen.

Ich ging mit. Was konnte los sein? War etwas mit dem Baby, das vor drei Monaten geboren war? War etwas mit der Großen, Vierjährigen? Oder hatte meine Schwester womöglich eine schlimme Krankheit? Mein Kopf spielte Kirmes, als ich da neben meinem Schwager die Straße entlanglief. Wir wohnen in einer kleinen Siedlung nicht weit voneinander entfernt. Meine Kinder waren zum Glück alle verabredet an diesem Tag, deswegen auch das Dösen in der Sonne…

Ich trat also in das kleine Reihenendhaus meiner Schwester und die Luft war zum Schneiden dick. Sie saß auf dem Sofa, vor ihr brabbelte im Reisebettchen das Baby, mein Schwager setzte sich zu ihr, ich nahm auf einem Stuhl Platz. Mein Schwager begann, zu reden. Es sei nicht leicht für sie, mir das jetzt zu sagen oder überhaupt mit jemandem darüber zu reden…

Meine Schwester, meine große toughe Schwester, beginnt nun, zu weinen. Mein Schwager nimmt sie in den Arm. Das Baby strampelt vor ihnen, als sie sagen: Wir sind schwanger. Und wir können dieses Kind nicht bekommen. Wir werden es nicht bekommen.

Stille.

Sammeln.

Aha…

Dann beginnt meine Schwester unter Schluchzen zu erzählen. Ihr sei jetzt schon alles zu viel, die letzte Schwangerschaft sei schon nicht leicht für sie gewesen, sie wisse überhaupt nicht, wie es oder ob es überhaupt beruflich weitergehe, die Finanzen seien ehschon knapp, auch die Ehe nicht immer ganz so leicht, nun, in dieser Situation, ein drittes Kind, wäre unvorstellbar.

Mein erster Gedanke: Ihr habt ein Haus. Ihr habt euch. Und ihr habt Liebe.

Es gibt schon zwei wunderbare Kinder, die Sachen könnten aufgetragen werden. Man kann doch nicht einfach so sagen, es geht nicht?! Wir schaffen das schon.

Ich seufze und sage: „Ich möchte, dass ihr wisst, dass ich hinter euch stehe, egal, welche Entscheidung es am Ende ist.“ Wir umarmen uns. Meine Schwester weint. Mein Schwager sagt: „Wir weihen dich ein, damit du die Kinder während des Eingriffs nehmen kannst. Du hättest ja eh gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt.“

Ich verlasse das Haus. Wie betäubt. Die Infos müssen erstmal ankommen, duchsickern. Ich muss das jetzt alles verstehen. Muss ich das? Ich muss wohl.

Wie mechanisch hole ich meine Kinder von den Hobbys. Was ist los, Mama, du bist so still. Verarbeiten, ruhig bleiben, einfach weiter funktionieren. In der Nacht liege ich wach. Spreche viel mit meinem Mann. Spreche mit meiner besten Freundin, obwohl ichs keinem sagen soll. Aber ich brauche Orientierung und Halt.

Ich hielt mich bislang für eine Powerfrau. Ich bemühe mich sehr um Gleichberechtigung. Ich will keine staatlichen Einschränkungen für Frauen, ich möchte, dass jede selbst über ihren Körper, ihre Karriere, ihr Leben entscheiden kann. Abtreibungen? Aber Hallo! Unser Körper, unser Recht.

Und jetzt, da es mich selbst betrifft, wackelt plötzlich mein Konstrukt. Ich will diese Abtreibung nicht. Ich will nicht, dass dieses Kind nicht leben darf. Ich will mich in dieses Kind genauso verlieben wie in meine anderen Nichten und Neffen. Ich will, dass sie ihr Geschwisterchen kennenlernen.

Für mich ist dieser kleine Zellhaufen sofort ein Lebewesen, ein Mensch, ich bin – leider – sofort verliebt. Und das lässt mich nicht ruhig. Ich nehme meine Nichten, als meine Schwester mit ihrem Mann zum Beratungsgespräch bei ProFamilia geht. Ich denke: Die werden ihnen nochmal Möglichkeiten aufzeigen, wie es doch noch gehen kann. So eine schnelle, weitere Schwangerschaft schockt einen vielleicht erstmal, aber sie werden sich bestimmt noch umentscheiden.

Als sie wiederkommen steht der Termin für den Eingriff fest. Ab diesem Tag läuft die Uhr rückwärts. Wie kann ich meiner kleinen Nichte oder meinem kleinen Neffen das Leben retten? Ich denke minütlich an dieses Kind, überschütte es gedanklich mit guten Gedanken und Geborgenheit. Wenn dich keiner will, ich will dich. Nur, dass du es weißt…

Die Schwiegermutter meiner Schwester, die nun auch eingeweiht ist, versucht es mit einem Gespräch mit ihrem Sohn. Keine Chance. Ich schreibe meiner Schwester einen Brief und habe Herzrasen, als ich ihn losschicke.
Ich mache ihr Mut. Wir schaffen das. Ich unterstütze finanziell, kräftemäßig. Wenn das nicht reicht: ich würde dein Kind sogar adoptieren.

Meine Schwester schreibt, sie sei gerührt. Ich weiß, dass die Entscheidung längst gefallen ist. Und trotzdem war dieser Brief wichtig. Für mich. Denn so weiß ich, dass ich alles versucht habe für dieses Kind, das mein Fleisch und Blut geworden wäre. Ja, das klingt pathetisch, aber genauso ging es mir in diesem Moment.

Nein, ich wollte nicht übergriffig sein, es ist ihre Entscheidung und es ist ihr gutes Recht. Aber ich wollte, dass dieses Kind spürt, dass es geliebt wird, auch wenn es nur für eine ganz kurze Zeit von wenigen Wochen zu uns gehörte. Zu unserer Familie. Ich weine Rotz und Wasser.

In der Nacht vor dem Eingriff schlafe ich nicht. Ich wälze mich rum, ich denke so fest ich kann an dieses Wesen im Bauch meiner Schwester, das ich im nächsten Jahr hätte kennenlernen können. Seine Zeit läuft.
Am Morgen zünde ich eine Kerze an. Ich schicke meine Kinder in Kita und Schule und übernehme das Baby meiner Schwester, ihre Große ist da schon bei der Tagesmutter.

Ich schnappe mir den Kinderwagen und schiebe. Und schiebe. Und gehe die größte Runde meines Lebens. Bloß kein Stillstand. Ich treffe durch Zufall eine Freundin. Was für ein Glück, Kaffee trinken. Ablenken. Über Belangloses reden. Als ich zurückkomme, schaue ich auf die Uhr. Jetzt müsste es vorbei sein.

Und ich werde ruhig.

Der Kampf ist vorbei. Nun lässt sich nichts mehr ändern. Nun werde ich meinen Frieden damit schließen.

Meine Schwester muss nach ihrer Wiederkehr erstmal liegen. Ich übergebe das Baby an meinen Schwager. War lieb, ja. Alles geklappt.

Ich setze mich an den Küchentisch vor meine Kerze und denke: Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan. Mein Gerüst hat gewackelt. Ich brauche einige Zeit, um wieder auf festem Boden zu stehen.

Es war ein Höllenritt, weil ich selbst anders gehandelt hätte. Weil ich mich vom Leben überraschen lasse und Dinge hinnehme, die im Grunde nicht zu ändern sind – und dann versuche, das Beste draus zu machen. Aber ich bin nicht du und du bist nicht ich und ich bin nicht sie.

Nach Wochen merke ich, dass mein Wunsch nach diesem Kind auch ein egoistischer war. Ich wollte diese Nichte oder diesen Neffen. Aber ich stecke nicht in der Haut dieser Familie. Es steht mir nicht zu zu urteilen. Vielleicht hätte diese Familie es tatsächlich nicht getragen – und ich bin sicher, niemand macht sich diese Entscheidung leicht. Es war ein Gefühlschaos für alle Seiten. Für niemanden leicht. Eigentlich gab es nur Verlierer. So fühlte sich das an.

Aber ich habe am Anfang gesagt, ich trage jede Entscheidung mit und zu diesem Wort musste ich nun auch irgendwie stehen. Es sind jetzt ein paar Monate vergangen seit dem Eingriff. Ich denke immer noch manchmal an den Termin, an dem unsere Familie eigentlich größer geworden wäre. Aber ich schaffe es, mit einem Lächeln an das kleine Wesen zu denken.

Weil ich ihm alles, was ich ihm mitgeben konnte auch wirklich mitgegeben habe.

Geliebt wird es immer noch.

That´s what family is made for.

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Mehr zum Thema Schwangerschaftsabbruch: – Ich habe mein ungeborenes Kind Miriam gennant – Warum Maike den Abbruch nicht bereut – Abtreibung, diesen Fehler mache ich nicht ein zweites Mal 

 


3 comments

  1. Die schwerste Entscheidung…
    die man im Leben treffen kann.
    Ich musste weinen bei dem Artikel. Meine Schwester hatte eine Abtreibung als sie sehr jung war, nicht aber zu jung um ein Kind zu bekommen. Sie war im Studium.
    Danach ist alles anders und die Mutter wird sich ihr Leben lang fragen:“Wie wäre es gewesen…?“
    Weiterhin alles Gute für die Familie.

  2. Danke
    Für diesen sehr persönlichen Bericht von der „anderen“ Seite aus, die ja irgendwie auch betroffen ist. Dass die Erzählende dabei frei vom erhobenen Zeigefinger bleibt und trotz Betroffenheit frei von moralisierenden Aussagen bleibt, finde ich sehr positiv. Vielen Dank dafür und alles Gute für diese Familie!

    1. Unmöglich…
      … Dieser Bericht. Übergriffig, egoistisch, einmischend und anmaßend. All das braucht man nicht in so einer Situation und ich hätte dich hochkant aus dieser Situation geschmissen.

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