Deutsche Ärztin in Italien: „Nach dem großen Corona-Ansturm kommt jetzt die Müdigkeit“

Ärztin in Italien

Ärztin Dr. Judith Bildau. Foto: Dorothee Dahinden

Liebe Judith, du arbeitest als deutsche Ärztin in Italien und bist seit dem Ausbruch des Corona-Virus im Dauereinsatz. Wie geht es dir gerade?

Liebe Lisa, ehrlich gesagt bin ich gerade sehr müde. So ganz langsam löst sich die Spannung der letzten Wochen und weicht einer ganz schön argen Erschöpfung. Die letzten Wochen waren schwierig – beruflich, familiär, natürlich auch gesellschaftlich.

Ich war in den letzten Wochen durchgehend im „Funktionsmodus“. Jetzt fallen so langsam die Zahlen der Neuinfektionen mit Covid-19 und auch die Zahlen der Todesfälle. Wir hoffen alle inständig, dass wir bald am Ende des Tunnels angelangt sind und Stück für Stück wieder eine gewisse Form der Normalität einkehren kann.

Du hast selbst fünf Kinder, wie schützt ihr sie, wie sieht es mit der Betreuung aus? 

Das stimmt, ich bin 5-fache Patchworkmama. Meine ganz große Stieftochter studiert in Deutschland. Sie war noch vor wenigen Wochen für ein Hilfsprojekt in Thailand unterwegs. Sie konnte mit einem Flieger der deutschen Rückhol-Aktion zurückgebracht werden. Die zweitgrößte Stieftochter lebt bei uns in Italien. Sie hat eine Autoimmunerkrankung und gehört deshalb zu den Risikopatientinnen.

Nach langem Überlegen und nach dem raschen Anstieg der Krankheitsfälle hier in Italien, haben mein Mann und ich uns im März schweren Herzens dazu entschlossen, sie aus Sicherheitsgründen nach Deutschland zu bringen. Seitdem bin ich nun mit meinen drei Töchtern und unserem Aupair Elouise alleine hier in Italien. Arbeite ich in den Kliniken, passt Elouise auf die drei auf.

Du hast Menschen an Corona sterben sehen… Du kennst überfüllte Intensivstationen und Leichenhallen…

Die Welle hat Italien mit voller Wucht getroffen. Ich erinnere mich noch daran, wie wir Mitte Februar von den ersten Fällen in unserer näheren Umgebung gehört haben. Irgendwie waren wir alle noch sehr entspannt. Meine Kollegen*innen und ich haben noch intensiver auf sämtliche Hygienemaßnahmen geachtet, ansonsten aber weiter gemacht wie bisher.

Dann stiegen die Zahlen der Infektionen und auch die der Toten rasant an und nichts war mehr, wie bisher. Meine Krankenhäuser wurden komplett umstrukturiert, es wurden Covid-19-Zentren geschaffen, denen wir zuarbeiteten.

Wir wussten plötzlich nicht mehr, welche Patienten*innen positiv waren, welche nicht. Auch welche Kollegen*innen sich infiziert hatten, wussten wir nicht, wussten sie ja selbst nicht. Auch ob wir es waren, konnten wir nicht wissen.

Eine positive Covid-19-Probe. Foto: pixabay

Wir haben weiter gemacht, so gut, wie wir konnten, haben immer mehr Patienten*innen auch aus dem am stärksten betroffenen Norden übernommen. Dort waren die Intensivstationen mittlerweile am Rande der Kapazität und die Toten mussten mit Militärfahrzeugen aus den Städten gefahren werden.

Wir hier in der Toskana wurden nicht so überrollt wie der Norden. Dort musste zwischenzeitlich entschieden werden, wer behandelt wird und wer nicht, weil es einfach nicht genug medizinische Hilfe für alle gleichzeitig gab. Dennoch hat es auch uns Ärzte*innen und alle medizinischen Mitarbeiter hier in Mark und Bein getroffen.

Habt ihr genügend medizinische Ausstattung wie Masken und Schutzanzüge?

Ich denke, es geht uns hier wie allen Menschen auf der Welt, die gerade im medizinischen Bereich arbeiten. Es fehlt an sehr vielem. Wir schützen uns so gut es geht.

Welche Atmosphäre herrscht derzeit zwischen euch KollegInnen?

Es ist ein sehr starker Zusammenhalt da. Wir schreiben uns fast jeden Abend und wollen wissen, wie es dem anderen geht. Wir versuchen uns gegenseitig Mut zu machen.

Gerade wenn einer von uns Sorge hat, sich infiziert zu haben, sich auf einmal kränklich fühlt, versuchen wir uns gegenseitig zu beruhigen. Ich wüsste nicht, was ich in den letzten Wochen ohne meine Kollegen*innen gemacht hätte.

Was hältst du als Medizinerin von der Idee, die Corona-Maßnahmen in Deutschland wieder zu lockern und z.B. Autohäuser und Baumärkte wieder zu öffnen (Kitas und Schulen aber nicht)? 

Ich bin besorgt. Ich verstehe natürlich die gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen Aspekte. Dennoch habe ich Bedenken, dass es zu früh sein könnte. Ich leide wirklich mit allen Eltern dieser Welt, die gerade Arbeiten, Homeoffice, Kinderbetreuung und Homeschooling gleichzeitig wuppen müssen. Es ist eine absolut extreme Situation.

Ich fühle sie alle, denn mir geht es ja genauso. Dennoch halte ich es aktuell für richtig, dass Kitas und Schulen weiter geschlossen bleiben. Kinder können symptomlose Überträger sein. Ich fände es schwierig, sie mit Masken und Handschuhen auszustatten und mit Abstandsregelungen wieder „in den Alltag“ zu entlassen.

Das Schlimmste, was jetzt passieren könnte, wäre meiner Meinung nach eine zweite Welle. Dann wären fast alle bisherigen Bemühungen umsonst gewesen und alles ginge wieder von vorne los. Ein Alptraum.

Was macht dir die größten Sorgen?

Ich mache mir momentan große Sorgen darüber, wie es nach dieser „Krise“ weitergehen wird. Ich wünschte mir, dass wir Menschen, nach diesem „Runterfahren auf Null“ in Zukunft andere Prioritäten setzen werden. Nämlich auf unsere Gesundheit, auf die Menschen, die wir lieben und auch auf diese Erde.

Plötzlich ist das Wasser in venezianischen Kanälen wieder klar, die Luft über den Städten smogfrei etc. Ich wünsche mir sehr, dass wir genau daran anknüpfen können und ab sofort verantwortungsvoll mit uns und allen anderen umgehen werden.

Ich habe aber die Befürchtung, dass das nicht so sein wird. Dass das alles hier ganz schnell wieder vergessen oder als „War doch gar nicht so schlimm“ betitelt wird und dass sich die Menschen sagen „Jetzt erst recht“. Sie noch verhältnisloser leben, weil sie ja eine Weile verzichten mussten.

Was meinst du, sind sinnvolle Maßnahmen in der Eindämmung des Virus?

Ich sehe das sehr klassisch medizinisch: Solange wir keinen Impfstoff bzw. keine optimalen Therapiemöglichkeiten haben, gilt es, die Infektionsketten zu unterbrechen. Leider ist das nur mit einem „Social Distancing“ möglich.

Hier liegt mir eine Sache ganz besonders am Herzen: Es geht nicht „nur“ um ältere Menschen oder Menschen mit Vorerkrankungen. Obwohl ich es furchtbar finde, so etwas überhaupt sagen zu müssen. Es ist ethisch einfach höchstgradig verwerflich so zu argumentieren. Sind denn ältere oder kranke Menschen nicht besonders schützenswert?

Dennoch möchte ich betonen: Auch junge und völlig gesunde Menschen, ja, und auch Kinder, können schwer erkranken und versterben.

Auf Verschwörungstheoretiker („Ist doch alles fake und gar nicht so schlimm“) reagierst du mittlerweile allergisch…

Ja, weil Angehörige von Erkrankten oder Verstorbenen, meine Kollegen*innen, Krankenschwestern und -pfleger am Rande unserer Kräfte arbeiten.

Ich bin völlig schockiert darüber, welche Verschwörungstheorien vor allem in den sozialen Netzwerken rumgeistern. Das macht mich sprachlos. Ja, und ich finde, es würdigt alle herab, die gerade unter den widrigsten Umständen versuchen, Menschenleben zu retten.

Neulich habe ich einen Post gelesen, in dem der Autor tatsächlich schrieb, dass alles um Covid-19 frei erfunden wäre, reine Medienhetze und es nur um die Beschneidung von Menschenrechten und die totale Kontrolle ginge. Das macht mich nur noch wütend.

Wie sieht dein üblicher Tag im Moment aus? Und woher nimmst du die Kraft?

Nachdem ich mit den Kindern den Tag für das Homeschooling besprochen habe, gehe ich in die Klinik. Ich arbeite in drei verschiedenen Krankenhäusern. Meine Aufgabe ist aktuell hauptsächlich die Notfallversorgung. Danach kümmere ich mich um die Patientinnen, die nicht in die Klinik kommen können.

Ich telefoniere viel, schiebe Rezepte unter Haustüren durch etc. Nach meiner Arbeit kümmere ich mich um die Schulaufgaben der Mädchen. Hier in Italien herrscht ja seit fast 8 Wochen eine Ausgangssperre, sie sind also den ganzen Tag zu Hause. Wir spielen abends Karten, basteln und malen und quatschen viel. Das gibt mir Kraft.

Mit welchen Gefühlen und vielleicht auch Hoffnungen blickst du in die Zukunft?

Ich bin eigentlich ein sehr positiver Mensch und freue mich auf alles, was kommt, wenn „es“ vorbei ist. Wir haben in der Zukunft so viele schöne Sachen vor! Was meine Familie und mich betrifft schaue ich also sehr hoffnungsvoll in die Zukunft. Dennoch sind meine Gefühle sehr gemischt.

Ich wünsche mir einen gesellschaftlichen Wandel in vielen Bereichen. Ich wünsche ihn mir sehr, habe aber auch Zweifel, dass er uns gelingen wird. Das sorgt mich.


1 comment

  1. Vielen Dank für diesen Beitrag.
    Es ist interessant aus so einer Mama-Ärztin-Sicht zu lesen.
    Ich traue mich gar nicht mehr zu sagen, dass ich mir Sorgen mache und nicht glaube das alles gefaket ist. Leider halten sich die Menschen in meiner Umgebung nicht sehr gut an die Beschränkungsregeln: Kinder und Enkel kommen wie gehabt zu ihren Eltern/Großeltern, Kinder spielen miteinander, Abstand im Supermarkt …
    Ich hoffe wir alle bleiben gesund und die Leute machen danach nicht weiter wie vorher!

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