Brief an meine Mama mit Alzheimer: Du fehlst mir und den Kindern so sehr

Ihr Lieben, unsere Leserin Peggy steckt in einer klassischen Fürsorge-Sandwich-Situation. Nicht nur hat sie drei noch relativ kleine Kinder, sondern auch eine Mama mit Alzheimer. Wenn sie zu ihr fährt, ist das nicht mehr die Tochter-Entspannung von damals, sondern anstrengend. Und das nicht nur körperlich, sondern auch emotional. Denn sie vermisst ihre Mama. Die Gespräche mit ihr. Und sie sorgt sich. Hier schreibt sie ihr einen Brief.

Liebe Mama,

fühlst du dich alleine? Bist du einsam?

Ich sehe dich, wie du in deinem Lieblingssessel sitzt. Du bist alleine, wenn du Runde für Runde im Esszimmer um den Tisch gehst. Du bist alleine, wenn wir am Tisch sitzen, essen und erzählen. Du kannst nicht mehr mitreden.

Du kannst nicht mitmachen, wenn die Kinder spielen. Bist du dann einsam? Du wirkst meist nicht unglücklich. Du nestelst mit deinen Fingern an deiner Strickjacke und gehst und gehst. Oder du sitzt und schaust in die Ferne.

Aber manchmal, da blickst du hilflos um dich. Und diese Situationen werden häufiger. Wenn Papa dich anzieht und dir geduldig sagt: „Jetzt das rechte Bein“, „Das rechte Bein“, „Das Bein hier“, dann stehst du da und weißt nichts mit deinem Bein anzufangen.

Du schaust ihn mit deinen lieben Augen an. Wenn ich dir die Haare waschen will und sage: „Komm, jetzt beuge mal den Kopf nach vorne“, dann siehst du mich an. Manchmal nickst du, weil ich nicke. Aber du hast überhaupt nicht verstanden, was ich gesagt habe. Ich kann dich mit meinen Worten nicht mehr erreichen. Du bist irgendwie ganz woanders.

Die Kinder fragen wenig, aber sie beobachten genau. Sie sehen, dass die Oma anders ist als alle Erwachsenen. Ich habe ihnen erklärt – und tue es immer mal wieder -, dass du eine Krankheit hast und dass diese Krankheit macht, dass man vergisst. Mehr nicht. Ich will ihnen keine Angst machen. Ich wollte doch, dass sie eine Oma haben, die mit ihnen spielt, kuschelt, vorliest, für sie kocht – und nicht eine, die körperlich anwesend, aber geistig abwesend ist.

Ein Dorf in China?

Ich habe mal gelesen, dass Alzheimer zu haben so ist, wie wenn man in China in einem Dorf abgesetzt wird und nichts versteht und niemanden kennt. Im ersten Augenblick klang das wie ein guter Vergleich. Aber ich glaube, dein Woanders ist nicht in einem Dorf in China. Ich habe ein bisschen Angst, dass dein Woanders einsam und verborgen im Nirgendwo liegt. In einem Nirgendwo, wo wir nicht hinkommen und du nicht rauskommst.

Ich war noch nie in einem Dorf in China, aber in einigen Dörfern in Afrika. Da kannte ich anfangs niemanden und konnte die Sprache nicht sprechen. Und doch war ich alles andere als einsam, denn sofort kamen Menschen und wir konnten kommunizieren, auch ohne gemeinsame Sprache. Wir konnten auf Dinge zeigen und uns in die Augen schauen.

Wenn ich dir etwas zeige, dann kannst du nicht mal mehr meinem Finger folgen. Es bringt nichts, wenn ich beim Anziehen auf dein rechtes Bein tippe. Du weißt dann immer noch nicht, was du damit machen musst. Ich muss es dir anheben und in die Hose schieben. Denn du bist tatsächlich woanders.

Du bist woanders

Du bekommst viel Zuneigung und Hilfe. Papas Gedanken und Mühen kreisen nur um dich. Er ist fast immer bei dir und umsorgt dich so, wie man es jedem Erkrankten nur wünschen kann.

Mit Lächeln und Streicheln gelingt es, dich in unsere Welt zu holen und gemeinsame Momente zu haben. Aber es wird immer schwerer. Und ich merke, dass es uns einsam macht. Papa ist jeden Tag mit dir zusammen – und doch ohne dich. Du bist in deiner eigenen Welt. Sogar mich macht es einsam, dass du nicht mehr bei mir bist.

Ich bin ja schon lange zu Hause ausgezogen, aber wir waren uns trotzdem nah. Wir konnten telefonieren, uns schreiben, besuchen. Du hast mir kleine Päckchen geschickt und auf dem Zettel stand als Abschied immer „Küsschen Mutti“.

Jetzt besuche ich euch und spreche mit dir, aber du bist woanders. Du schaust mich mit großen Augen an. Mir geht es gerade nicht so gut, ich bräuchte deinen Rat oder vielleicht einfach nur deine Umarmung. Ich habe dir neulich von meinen Sorgen und Problemen erzählt.

Ich habe gehofft, dass du mich umarmst und mich tröstest. Dass du als Mama für mich da bist, so wie du es früher warst und so wie ich es jetzt für meine Kinder bin, wenn sie traurig sind. Doch du bist in deiner Welt – und ich fühle mich verlassen. Aber ich möchte dich natürlich nicht alleine lassen oder verlassen. Ich möchte auch für dich da sein.

Dein Lächeln gibt mir Mut. Immer, wenn ich dich besuche – und jeden Morgen erneut – freust du dich. Und meine Kinder geben mir Kraft. Du bist woanders. Es ist wie es ist, aber manchmal ist es schwer für dich. Und für mich auch.

 

Dieser Brief steht in abgeänderter Form auch im Blog der Autorin, den wir euch sehr empfehlen möchten: Alzheimer und wir


13 comments

  1. Sehr berührend
    Liebe Peggy,
    dein Brief an deine Mutter hat mich sehr berührt. Hatte Tränen in den Augen. Jeder ist im Grunde „woanders“. Aber die Liebe findet überall hin.

  2. Kindersicht
    Ich kann nur aus kindersicht berichten… Meine Oma hat bei uns gelebt und war stark Dement. Es gab sehr schwierige Zeiten, als sie beleidigend und aggressiv wurde. Aber ich erinnere mich gerne an die Zeit, als sie völlig verwirrt war. Wir hatten so viel Spaß zusammen. So wie du schreibst, dass deine Mutter nun so herzlich lacht… Ich habe mir immer einen Scherz daraus gemacht und meine Oma gefragt, ob sie mit auf diverse Partys kommen mag. Da hat sie sich immer total gefreut 🙂 natürlich hat sie das sofort wieder vergessen….
    Meine Oma konnte früher gut stricken und hat bis zuletzt gerne Socken gestrickt. Aber sie hat einfach immer weiter gestrickt! Oft haben wir dann herzlich gelacht, wenn ich mal wieder eine endlos Socke anprobieren sollte, die mir bis zum Oberschenkel ging 🙂
    Eine andere schöne Erinnerung ist es, dass sie mir stundenlang die Haare geflochten und gekämmt hat, während ich viva geschaut habe. Ich habe den Zopf immer heimlich aufgemacht und sie konnte von Neuem anfangen. Wir haben es beide genossen!
    Als sie wirklich gar nichts mehr wusste, haben wir ihr einen kleinen Stoffaffen geschenkt. Den hat sie gehegt und gepflegt wie ein Kind. Manchmal hatte sie dann doch noch einen hellen Moment und irritiert geschaut und laut losgelacht, als sie den Affen gesehen hat. Mit 95 ist sie gestorben und hat ihren Affen mit ins Grab genommen…. Und hoffentlich viele schöne Erinnerungen!
    Ich wünsche dir viel Kraft für die nächste Zeit mit deiner Mama – aber freu dich trotz allem auch darauf… Es wird immer wieder lustige Momente geben (das Wort bittersweet passt dafür am besten, finde ich!)

    1. bittersweet
      Vielen Dank, dass du deine Erfahrungen mit mir – und allen anderen hier – geteilt hast. Es tut so gut, von den schönen Seiten zu lesen und davon, dass es lustige Momente gibt. Ich habe oft Angst, dass meine Kinder nur das Schlimme sehen, aber sie erleben natürlich auch die schönen Momente mit meiner Mama. Daran sollte ich auch mal öfter denken … Danke!

  3. So klar und sehr berührend
    So klar und sehr berührend geschrieben! Ich wünsche Ihnen viel Kraft für die weitere Zeit mit Ihrer Mutti.. sie fühlt sicherlich die Liebe die sie umgibt!

    Alles Gute Ihnen allen!

    1. Danke
      LIebe Beatrice, ich bin mir sicher, dass Mama all die Liebe spürt, mit der sie gehalten wird, von mir und meinem Bruder und vor allem von unserem Papa. Viele Grüße!

  4. Auch ich…
    …sitze hier mit Tränen in den Augen, denn auch mein Papa hat seit 2013 diese heimtückische Krankheit, die immer mehr von dem verschwinden lässt, was meinen Papa ausgemacht hat. Ich denke immer wieder, dass der Nebel sich nicht nur in seinem Kopf breit macht, sondern auch er als Person immer mehr in diesem Nebel verschwindet. Ich stehe auch heute noch manchmal da und kann es nicht fassen, dass mein geliebter, witziger und charismatischer Papa nicht mehr da ist….und es immer weniger wird.
    Alles Liebe euch und eurer Familie. Seid gewiss, dass ihr nicht alleine seid mit diesem Schicksal. Viel Kraft!

    1. Nebel im Kopf
      Liebe Barbara, ja, kaum zu fassen und noch schwerer zu erklären, was diese Krankheit mit den Betroffenen macht. Und wenn man denkt, man hat sich irgendwie daran gewöhnt, dann klappt etwas Neues nicht mehr. Ich wünsche dir viel Kraft und Liebe und vor allem, dass ihr auch viele schöne Momente in diesem Nebel habt. Alles Liebe, Peggy

      1. Ich habe doch tatsächlich…
        …deine lieben Worte jetzt erst gelesen. Vielen lieben Dank dafür! Fühl dich mal aus der Ferne ganz lieb gedrückt…

  5. Sehr berührend
    Vielen Dank für deine einfühlsame Beschreibung und die lieben Worte, die du für deine Mutter findest.
    Es hört sich an, als ob deine Mutter in der besten Familie diese zermürbende Krankheit bekommen hat. Ihr kümmert euch rührend um sie und lasst sie an eurem Leben teilhaben.
    Ich wünsche dir und der ganzen Familie viel Kraft.
    Alles Liebe, Johanna
    (die im August ihre Mama begraben hat und hier mit Tränen in den Augen sitzt…)

    1. Danke
      Liebe Johanna, wie schwer für dich. Ich umarme dich in Gedanken und wünsche dir viel Kraft. Als Familie hat uns Mamas Krankheit tatsächlich zusammengebracht. Sie lässt uns gut und vertraut miteinander sprechen, wir organisieren so gut es geht gemeinsam. Mein Bruder und ich haben nur eines im Sinn, Papa zu stützen, damit es Mama möglichst gut gehen kann.
      Liebe Grüße, Peggy

  6. Alles Gute
    Ein wunderschöner Brief – ich habe neulich schonmal im Block gestöbert. Es tut mir wirklich leid, für euch alle. Vor dieser Krankheit habe ich durchaus die größte Angst, dass sie einen in der Familie befällt.
    Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie alles Gute – genießen Sie dennoch die Zeit mit der Mama!
    Die letzte Geschichte fand P. übrigens klasse – allein wegen der Taschen, wir freuen uns auf mehr und besonders auf nächste Woche! Alles Liebe wünscht Familie S.

    1. Danke
      Liebe Kathrin, vielen Dank für die lieben Mut machenden Worte. Ja, die Krankheit ist schrecklich, aber bringt auch schöne Dinge. Meine Mama lacht so herzlich und befreit, wenn sie fröhlich ist, das kannte ich von früher so nicht. Und wir sind als Familie ein Stück weit zusammengerückt.
      Viel Spaß beim Lesen nächste Woche. Es geht gespenstisch zu, aber leider ohne Tasche 🙂
      Viele Grüße Peggy

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert