Wie mir meine zweite Tochter die Liebe zur Ersten schenkte – Gastbeitrag von Anne

Nach den letzten Beiträgen zum Thema Babyblues und Wochenbettdepression stieg in mir der Wunsch, meine Geschichte mit euch zu teilen. Im Mai 2009 erfuhr ich, dass ich schwanger bin. Ich war 19 Jahre alt, hatte noch die mündliche Abiturprüfung vor mir, mein Freund war wegen Computer – Spielsucht gerade zur Kurzzeittherapie und ich wollte nach dem Abi ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer anderen Stadt machen. Einen schlechteren Zeitpunkt gab es nicht.

Ich komme aus einer christlichen und sehr traditionellen Familie, so dass Abtreibung von Anfang an keine Option war. Es hat mich viel Überwindung gekostet, meinen Eltern von der Schwangerschaft zu erzählen. Als Pfarrerstochter unehelich schwanger zu werden, bedeutete Versagen in allen Bereichen.

Die überraschend positiven Reaktionen von allen Seiten, erleichterten mir die Annahme der Situation sehr und ich begann, mich mit der Schwangerschaft zu arrangieren. Das FSJ sagte ich ab, mein Freund beendete erfolgreich die Therapie und im Oktober zogen wir zusammen in eine kleine Wohnung.

Im Januar 2010, ziemlich genau zum errechneten Termin, sprang mir nachts um vier die Fruchtblase. Ich war wegen einer Migräneattacke erst zwei Stunden zuvor eingeschlafen und musste nun ins Krankenhaus. Die Wehen setzten erst am Abend ein, die Geburt dauerte zwölf Stunden. Nach zwei Nächten ohne Schlaf und mehreren Stunden mit starken Schmerzen, fiel es mir schwer, mich anschließend über mein Kind zu freuen. Sie legten mir meine Tochter auf den Bauch, aber ich war einfach nur so k.o., dass ich mich kaum darüber freuen konnte.

Schon am ersten Tag hab ich das erste Mal geheult. Ich war mit allem überfordert, konnte mit dem kleinen Wesen so gar nichts anfangen und das Stillen tat einfach nur weh.

Nach vier Tagen verließen wir das Krankenhaus und alles war soweit gut. Ich konnte meine Tochter stillen, mein Freund hatte die ersten zwei Wochen Urlaub und so versuchten wir, mit unserem neuen Alltag zurecht zu kommen.

Vor der Schwangerschaft war ich viel unterwegs, traf mich oft mit Freunden und unternahm die verschiedensten Dinge. Mit Baby kam ich mir wie eingesperrt vor. Irgendwohin gehen mit der Kleinen überforderte mich, ich wollte sie nicht im Restaurant stillen oder böse Blicke ernten, weil sie weint. Also blieb ich fortan ganz oft zu Hause.

Wenn mein Mann etwas unternehmen wollte, ging das nur, wenn er unser Kind vorher bei meinen Eltern oder Schwiegereltern abgab, da ich nicht mit ihr alleine sein wollte und konnte. Wenn er auf Arbeit war, zählte ich die Minuten, bis er wiederkam. Mein Haushalt blieb streckenweise komplett liegen, weil ich keine Motivation und keine Kraft hatte, mich um irgendetwas zu kümmern. Ich fand alles schrecklich. Das Einschlafen mit oder ohne stillen, strengte mich an. Wenn die Kleine wach war, überforderte es mich, sie zu beschäftigen.

Eines Abends gab es eine Situation, die sich sehr tief bei mir eingebrannt hat. Meine Tochter bevorzugte eine Brust mehr, dementsprechend wund war diese bereits. An diesem Abend biss sie beim Trinken zu und ich schrie vor Schmerz auf. In diesem Moment überkam mich so eine Wut auf mein Kind. Vor Wut und Verzweiflung heulte ich so sehr, dass mein Mann unser Kind erst einmal nehmen musste, bevor ich sie weiter stillen konnte. Ich unterstellte meiner drei Monate alten Tochter, dass sie mich absichtlich gebissen hatte, um mir wehzutun. Im Nachhinein weiß ich, dass das absurd und irrational war, aber in diesem Moment fühlte es sich für mich so an.

Es fiel mir schwer, mein Kind anzunehmen. Ich mochte nicht gern mit ihr kuscheln oder sie auf meinen Arm nehmen und ich war jedes Mal froh, wenn sie bei jemand anderem war.

Meine Eltern bemerkten zwar, dass mein Verhalten nicht ganz normal war und sie beklagten, dass sie mein Kind oft nehmen sollten, obwohl ich verantwortlich bin, aber niemand kam auf die Idee, dass ich an einer Wochenbettdepression leiden könnte. Ich selbst wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es so etwas gibt.

Ein halbes Jahr nach der Geburt heirateten mein Mann und ich und ab da wurde es langsam besser.

Im Oktober 2010 habe ich angefangen zu studieren. Meine Mutti bot sich an, meine Tochter in den Zeiten zu betreuen, damit sie nicht in die Kindergrippe muss. Das Studium hat mir unglaublich gut getan. Ich fühlte mich wieder jung, konnte meine kinderfreie Zeit an der Uni genießen und blühte wieder auf.

So entschieden wir uns nach zwei Jahren für ein zweites Kind. Die Schwangerschaft verlief leider nicht so problemlos wie die erste und am Ende wurde unsere zweite Tochter vier Wochen zu früh per Notkaiserschnitt geboren. Sie litt am Atemnotsyndrom und die ersten Tage waren sehr kritisch. Die Ängste, die wir in der Zeit hatten, haben mir bewusst gemacht, wie wichtig mir beide Kinder sind und ich merkte, wie ich auch meine große Tochter neu lieben lernte.

Durch viel Therapie und etliche Gespräche mit Fachleuten kann ich heute sagen, dass ich beide Kinder unglaublich liebe. Erst durch die Therapie fünf Jahre nach der Geburt meiner Großen erfuhr ich, dass ich an Wochenbettdepressionen litt. Es hat sehr lang gedauert und es war viel Arbeit.

Am Ende war es meine zweite Tochter, die mir zeigte, wie die Liebe zu einem Kind sein kann und mir somit die Liebe zu meiner Großen schenkte.

Heute geht meine Große bereits in die erste Klasse und meine zweite Tochter wird demnächst vier Jahre alt. Sie sind tolle Kinder und liebevolle Schwestern, die sich durch nichts und niemanden trennen lassen.

Ich möchte euch mit meiner Geschichte Mut machen. Jeder schwere Start kann ein Happy End haben und aus den schlechtesten Umständen können wundervolle Geschichten entstehen. Wir haben bis hierher alle Schwierigkeiten gemeistert und werden auch weiter als Familie zusammenhalten. Weil wir uns lieben. Wir vier.

 

Zum Weiterlesen: Bitte schaut euch unbedingt auch diesen Beitrag zu dem besten Buch zur postpartalen Depression "Wie kann ich dich halten, wenn ich selbst zerbreche" durch.

 

Fotoquelle: Pixabay