Knut Reinhardt: Wie aus einem Ex-Fußballprofi ein Grundschullehrer im Brennpunktkiez wurde

„Ich war schon immer bodenständig“, sagt Knut Reinhardt. Er war Profi-Fußballer und Nationalspieler, dann verletzte er sich und stand vor dem Nichts. Er konnte doch nur Fußball! Er entschied er sich, Grundschullehrer zu werden und arbeitet heute an einer Brennpunktschule in Dortmund.

Von Lisa Harmann

Knut Reinhardt wirkt abgehetzt, als wir uns am Mittag in der Dortmunder Innenstadt treffen. Er kommt gerade erst aus der Schule. Der Job fordert ihn. Aber der Mann ist es gewöhnt, dahin zu gehen, wo es schmerzt. Als er in seiner ersten Karriere als aufstrebender Fußballprofi bemerkte, dass sein Körper nicht mithalten kann, ging er neben dem Training bei Bayer Leverkusen noch dreimal die Woche zu den Leichtathleten – freiwillig. Reinhardt beißt sich durch. Deswegen war es wenig überraschend, dass er sich nach seinem Studium der Grundschulpädagogik an einer Schule mit hohem Konfliktpotential anstellen ließ

Herr Reinhardt, wenn man Ihnen vor 20 Jahren gesagt hätte, wo Sie heute stehen, hätten Sie das geglaubt?

Niemals, weil ich damals noch in dieser Fußballwolke lebte. Für mich kam noch gar nichts anderes in Frage, als mit dem Sport zu leben.

Sie haben mit Bayer Leverkusen den UEFA-Pokal gewonnen und mit dem BVB die Deutsche Meisterschaft und die Champions League. Wenn Sie aufliefen, jubelten Ihnen 80.000 Fans zu. Heute stehen Sie vor einer Schulklasse mit 25 Kindern, die nicht immer motiviert sind. Wo holen Sie sich Ihre Anerkennung her?

Ich versuche, die Kinder schlauer zu machen und sie auf das Leben vorzubereiten. Wenn ein Kind zum Beispiel plötzlich den Fahrplan lesen kann, dann heißt das, es wird die U-Bahn bekommen und kann eine Verabredung einhalten. Da bekomme ich also eine direkte positive Rückmeldung. Das macht mich glücklich. Letztens sagte mir ein Kind, dass ich nach der vierten Klasse: „Herr Reinhardt, ich mach jetzt Abitur!“ Das macht mich glücklich. Aber der Job ist natürlich auch anstrengend.  

Es ist ja auch anstrengend über den Platz zu rennen.

Das ist aber eine ganz andere Anstrengung. Lehrer zu sein ist einfach mental herausfordernd. Manchen Kindern hat noch niemand „Guten Morgen“ gesagt, bevor sie in den Klassenraum kommen. Da fangen wir viel auf. Dafür gebührt dem Lehrerberuf wirklich viel mehr Anerkennung, er wird total unterschätzt.

Ist es ein Vorteil für Sie als Lehrer, dass Sie mal Profifußballer waren?

Ich denke schon. Wenn man sich so weit in der Bundesliga etabliert hat, dann muss man ein bisschen verrückt sein. Ich habe schon eine Schraube locker und hatte durch den Sport mit etlichen schrägen Vögeln zu tun, mit vielen Kulturen. Und es gehörten enorme Stresssituationen dazu. Ich glaube, dass ich deshalb auch anders mit Kindern umgehe.

Sie selbst beschreiben sich in Ihrem Buch als „Klassenclown mit mittelmäßigen Zensuren“. Auch in Ihrer Fußballlaufbahn bewiesen Sie Humor. Im Trainingslager ergatterten Sie den Zimmerschlüssel von Andi Möller und legten ihm einen lebenden Hummer aus dem Hotel-Aquarium unter die Bettdecke… 

Haha, ja, zum Glück gab es damals noch keine Smartphones, mit denen alles aufgezeichnet und ins Netz gestellt werden konnte. Vermutlich wäre mir bereits nach einer Woche als Profi der Vertrag gekündigt worden. Aber ich glaube eben: Alles geht leichter, wenn die Stimmung gut ist. Und das gilt auch im Klassenzimmer.

Spielen Ihnen Ihre Schüler auch Streiche?

Klar! Neulich haben sie mir ein Furzkissen auf den Stuhl gelegt. Ich habe das natürlich gleich gesehen – mich aber trotzdem drauf gesetzt. Ich glaube, in diesem Beruf muss man viel Humor haben. Man kann das gar nicht alles verarbeiten. Ich brauchte schon eine Weile, um mir einzugestehen, dass wir als Lehrer nicht alle Kinder retten können.

Das ist im Profifußball ja nicht anders. Manche schaffen es, andere nicht.

Genau. Und eine Unterrichtseinheit lässt sich auch wirklich mit einem Fußballspiel vergleichen. Man kann noch so gut vorbereitet sein, trotzdem kann alles schief gehen. Andersherum kann auch alles gut laufen, obwohl man gar nicht in Form ist. Und sowohl im Fußball als auch in der Schule gilt: Wenn man sich reinhängt, kann man vieles erreichen.

Das galt auch für ihr Studium, oder?

Ja, da habe ich von den ersten acht Prüfungen vier nicht bestanden. Das war keine leichte Zeit. Im Fußball hatte ich eine gewisse Stellung, die Leute erkannten mich auf der Straße, wir feierten mit Champagner. Aber es ist eine Blase, in der man da als Profi lebt – und die platzt irgendwann.

Und als Ihr Knie versagte, standen Sie plötzlich ohne alles da.

Das war der Tiefpunkt: Mit dem Fußball war es vorbei, die Familie war kaputt, weil sich meine große Liebe in den Torwart unserer Mannschaft verliebt hatte; zudem war ich arbeitslos und ohne Perspektive. Und ich hatte hohe laufende Kosten und schon zwei Kinder von zwei verschiedenen Frauen.

Und dann?

Dann lernte ich Helena kennen – und wir bekamen zwei weitere Kinder (lacht).  Ich habe mich hingesetzt und das Studium geschafft. Auch durch Helena bekam ich es hin, die Ärmel wieder hochzukrempeln.  Und ich erlebte, dass es im Leben nicht um Geld geht,  sondern  darum, glücklich zu sein

Das klingt sehr bodenständig.

Als Profis logierten wir in den besten Hotels, bekamen Hummer serviert und die feinsten Sachen. Vielleicht hab ich gerade deswegen das viel einfachere Studentenleben wirklich genießen können. Und es stimmt, ich war schon immer bodenständig. Meine Eltern hätten mich rasiert zu Hause, wenn ich abgehoben hätte. Das kommt mir auch jetzt in der Grundschule zugute.

Inwiefern?

Ich bin nicht in den üppigsten Verhältnissen groß geworden. Wir hatten schon alles, was wir brauchten, aber wenn ich mir Marken-Fußballschuhe wünschte, bekam ich eher die Billigversion. Unsere Schule befindet sich in der Nordstadt, einem sozialen Brennpunkt. Über 80 Prozent unserer Kinder haben einen Migrationshintergrund oder sind eingewandert. Wir müssen da viel mehr leisten als reine Wissensvermittlung, wir wollen den Kindern grundlegende Fähigkeiten für ihre Zukunft mit auf den Weg geben.

Dazu gehört ja auch mehr Bewegung. Sie unterrichten neben Mathe auch Sport. Wie motivieren Sie die Kinder?

Ganz wichtig ist, dass der Spaß im Vordergrund steht, ohne Leistungsdruck. Als Lehrer machen wir einfach Angebote, dann merkt ein Kind schnell, ob ihm Basketball oder Fußball mehr liegt. Vielleicht gefällt ihm aber auch Akrobatik? Da sollten wir den Kindern viel Raum geben. Das gilt auch für die Eltern. Einige möchten ihre Kinder in ein Hobby drängen, das ihnen selbst, aber nicht ihren Kindern gefällt. 

Wissen Ihre Schüler denn, wer Sie sind – und dass Sie Fußball-Berühmtheiten wie Thomas Tuchel persönlich kennen?

In Dortmund ist Fußball mehr als eine Leidenschaft, eher eine Religion. Deswegen wissen natürlich einige Schüler, dass ich mal Spieler beim BVB war. Einige schauen bei Wikipedia rein, wer ich bin. Und mein Buch wird wohl auch irgendwann in der Schulbibliothek stehen.

Darin können die Kinder dann nachlesen, wie Sie überhaupt auf die Idee kamen, Lehrer zu werden…

Genau. Mein Freund Thorsten arbeitet selbst an einer Grundschule und sagte irgendwann: Knut, du kannst doch gut mit Kindern. Wie wäre es, wenn du Lehrer würdest? Ich habe das dann erst einmal zu Hause angesprochen und länger nachgedacht. Als ich mich dann wirklich an der Uni einschrieb, haben erst mal alle gelacht und sich gefragt: Was macht der da?

Nun unterrichten Sie also täglich. Welche Probleme bekommen Sie von den Kindern mit?

Viele Kinder verbringen ihre Nachmittage nicht mehr im Wald oder mit kulturellen Angeboten. Zum Teil erleben sie in ihren Familien keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr und sobald es Stress gibt, drückt man ihnen ein elektronisches Gerät in die Hand. In den Ferien sitzen sie teilweise wochenlang vor der Playstation und erzählen nachher stolz, dass sie ein neues Level in irgendeinem Spiel erreicht haben. Das ist dann ihr einziges Ferienerlebnis. Wir sehen schon viele emotionale Baustellen.

Welche zum Beispiel?

Vielen fehlt heute ihre Basis in den Familien. Es ist erschütternd. Alleinerziehende, Patchwork, Trennungen, Konflikte, unklare Verhältnisse, Kulturunterschiede. Das ist ziemlich komplex für ein Kind. Und wenn das nicht aufgefangen wird, belastet das die kindliche Psyche.

Wie motivieren Sie Kinder, die keine Lust haben, die Füße auf den Tisch legen und auf Durchzug schalten?

Einmal hat ein Mädchen das wirklich gemacht. Ich habe gesagt, gut, dann legst du eben deine Füße auf den Tisch. Sie war völlig verdattert, dass ich nicht schimpfe. Manchmal muss man Kinder einfach überraschen mit der eigenen Reaktion, um sich seine Aufmerksamkeit zu sichern. Aber es gibt natürlich kein Geheimrezept. Ich mache da viel aus der Intuition heraus.

Ist das eine Chance für Sie als Lehrer, dass die Kinder in Ihnen dann ein Vorbild sehen?

Wir versuchen natürlich, den Kindern vorzuleben, wie es eigentlich funktionieren sollte. Ich bin pünktlich da, zuverlässig, bereite den Unterricht gut vor, bringe ihnen Lesen, Schreiben, Rechnen bei. Und ich  versuche, sie über den eigenen Tellerrand hinausschauen zu lassen.

Wie?

Sie wissen zum Teil nicht, dass das Sauerland nur eine Region ist und kein Land wie England oder Frankreich. Es kam auch schon vor, dass ein Kind an der Banane den Reißverschluss zum Öffnen suchte. Sie kennen sich mit sämtlichen Fernsehprogrammen aus, aber nicht damit, wie ihr eigenes Land funktioniert. Da versuchen wir, Dinge zu erklären, die ihnen sonst niemand erklärt. Schicken sie raus in die Natur, fordern sie auf, Dinge zu hinterfragen. Das ist schon nachhaltiger als ein Tor in einem Fußballspiel.

Trotzdem sprechen Sie immer noch leidenschaftlich über Ihre Fußballzeit. Haben Sie manchmal Sehnsucht?

Wenn ich im Stadion bin, kriege ich schon noch Gänsehaut. Und ich freue mich, alte Kollegen wie Günter Kutowski, Michael Lusch oder Michael Rummenigge zu treffen. Der Fußball hat ein schönes Plätzchen in meinem Leben. Aber ich habe ja auch heute das Glück, einen Beruf zu haben, der mich genauso ausfüllt, wie mein Profisportlerleben damals. Ich sage gern: Wenn ich morgen umfalle, dann habe ich zumindest nichts verpasst.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der Zeitschrift Eltern Family.


2 comments

  1. Auftritt im ZDF am 04.04.
    Durch Ihren Auftritt beim ZDF angeregt, habe ich mich „hierher“ durchgeklickt. Ein paar Berührungspunkte habe ich zu Ihnen… Ich sehe gerne den BVB gewinnen, Meine Frau lebte als Kind in DO, ihr verst. Onkel (die Tante besuchen wir immer Mal…) war mal „oberster Polizist“ in DO – und – ich war „im Laufe der Zeit“ auch in einigen DO Grundschulen, weil ich in meiner aktiven Zeit für „Schulmilch“ in D zuständig war und da eben Termine zur gesunden Ernährungserziehung mit gestaltet habe – und die eben auch in DO stattfanden.

    Sie haben mich mit Ihren mündlichen Ausführungen und auch hier in diesem Interview sehr beeindruckt! Es macht Mut, dass es Menschen als Lehrer wie Sie gibt! Ich kenne mittlerweile viele Lehrer – leider sind die Wenigsten „so“, wie ich von Ihnen den Eindruck habe. Viele sind frustriert und haben nach einigen Jahren „die Nase voll“ und kündigen innerlich.

    Ich denke, bei Ihnen kommt positiv zum Tragen, dass Sie bereits erfolgreich einen Beruf als Fußballer „hinter sich“ haben – und wissen, DASS Sie unter Beweis gestelllt haben, dass Sie „Mannschaftsspieler“ sind – und man auch in der „Klassenmanschaft“ immer auch „Mitspieler“ hat, die man auf deren Weise hin motivieren muss… Ich hatte im „Betriebssport“ auch solche Kollegen, die nach Fehlschüssen wieder aufgemuntert werden wollten…

    Ich wünsche Ihnen bei Ihrem wertvollen Beruf immer gute Ideen, Überzeugungskraft und alles, was Sie brauchen, um den Kindern beim Einstieg in diesen Lebensabschnitt wertvolle Begleitung anbieten zu können – und dazu Gottes reichen Segen!

    Machen Sie weiter – „so“ – oder noch besser!!!
    Ihr
    Günther Kohl

  2. Toller Lehrer
    Ich finde es toll, dass es an einer Brennpunkt-Schule so einen entspannten Lehrer gibt. Diese Kinder brauchen ihn am Nötigsten.