Gastbeitrag von Julia: So war meine Kindheit mit einem alkoholkranken Vater

Ihr Lieben, vor einiger Zeit fragten wir in unserer Facebook-Gruppe, wer sich vorstellen könnte, über seine Kindheit mit einem alkoholabhängigen Elternteil zu schreiben – die Resonanz war riesig. Und hat wieder mal gezeigt: Viele Kinder wachsen mit Eltern auf, die ein Problem mit Alkohol haben. Für all die, die sich gemeldet haben: Ihr seid nicht allein – nicht nur Ihr habt diese Erfahrungen gemacht. 

Heute berichtet uns Julia davon, wie ihr trinkender Vater jahrelang die Familie tyrannisiert hat. Wir danken Dir sehr für Dein Vetrauen, Deinen Mut und Deine Kraft. 

"Vor 6 Monaten hätte ich mich nicht gemeldet, als Stadt Land Mama virtuell fragte, wer ich zum Thema alkoholkranker Eltern äußern könnte. Aber irgendwie ist etwas in den vergangen Monaten bei mir passiert. Ich kann mich mit der eigenen tot geschwiegenen Thematik befassen. Aber wo fange ich denn nun eigentlich an…

Am Besten in meiner Kindheit. Wenn ich mich an meine eigene Kindheit zurück erinnere, gibt’s da keine gelungene Kindergeburtstage, keine Parkbesuche, keine Kuschelstunden mit den Eltern oder gemeinsamen (eigentlich so normalen) Rituale.

Ich erinnere mich an leere Bierflaschen, Streitereien, den Geruch einer starken Alkoholfahne. Ich erinnere mich an einen lallenden, streitlustigen und gewalttätigen Vater und an die auferlegte Devise meiner Mutter, den Schein der Familie nach außen zu wahren – komme, was wolle….

Mein Vater war stark alkoholkrank. Was ist das eigentlich? Als Kind war mir das nicht klar. Für mich war das total normal.

Es war normal, dass mein Vater morgens im Bett blieb, seinen Rausch ausschlief, sich anschliessend duschte, um dann seine Kneipen abzuklappern. Es war jeden Tag das Gleiche.

Er war arbeitslos, verprasste sein Geld und das meiner Mutter, die rund um die Uhr zu arbeiten schien. Spät Abends kam er dann immer nach Hause.

Am Geräusch, wie er den Schlüssel in das Schlüsselloch steckte, konnte ich die Skala seines Rauschs erkennen. Was hasste ich dieses Geräusch oder dieses Hals zuschnürende Gefühl, wenn er seinen Schlüsselbund auf die Telefonbank warf.

Dann hieß es für mich: ruhig sein, bloß keinen Grund zum Streiten geben, ja nicht mehr aus dem Zimmer kommen…

Wenn ich dann doch mal aus meinen Zimmer kam, weil ich zum Beispiel auf die Toilette musste, fand er immer einen Grund, etwas an mir auszusetzen. Dann rief er meinen Namen und ich wusste „jetzt geht’s los“.

Ich erinnere mich an die Frage meiner Erzieherin im Kindergarten, warum ich den immer nur meine Mutter und mich malen würde. Und wenn mein Vater doch mal mit auf dem Bild war, dann stand er immer weit abseits – und war gänzlich unbunt.

Ich erinnere mich auch noch an die Morgende, an denen meine Mutter mich gefragt hat ob ich heute „mal“ vom Kiga zuhause bleiben möchte. Da wusste ich, dass es wieder ganz schlimm mit meinem Vater sein muss.

Für mich waren Geräusche von Schlägen oder Schreiereien total normal. Wohl so normal, dass ich es abends und nachts im Bett gar nichts mehr davon bekommen habe, weil ich so an die Geräuschkulisse gewöhnt war.

Machmal wurde ich mit einer schriftlichen Genehmigung zum Bier kaufen geschickt, mal im Zigaretten zu holen oder mal die wöchentliche Einheit Aspirin aus der Apotheke – das wechselte routiniert.

Ich muss ehrlich sein, auch wenn es sich grauenhaft anhören mag: Bereits im Kindergartenalter und der Grundschule habe ich meinen Vater schon gehasst. Ja, Hass ist genau das passende Wort, das ich als Kind empfand.

Ich vermisste ihn nicht, suchte nicht seine Nähe, ich genoss es, wenn er nicht da war. Irgendwann kam dann die Pubertät. Ich war ein ruhiger Teenie, lud weder Freunde ein, noch wurde ich eingeladen. Ich verkroch mich. Ich bettelte meie Mutter oft an, meinen Vater zu verlassen. Wir oft,  ich kann es gar nicht zählen.

Einmal schritt ein Nachbar ein, als er sah, wie mein Vater mich am Hals würgte und gegen die Hauswand drückte. Wieso der Nachbar? Wieso hat meine Mutter nicht genug Mut einzugreifen? Diese Fragen beschäftigten mich täglich… 

Als ich dann mit 15 eine Ausbildung begann, veränderte ich mich. Mein Selbstbewustsein wuchs – ich begann zu kontern. Mir schlug das Herz so oft bis zum Hals, wenn ich meinem Vater widersprach und ihm sagte, was ich von ihm halte. Klar, gab es dann Schläge oder etwas wurde mir nachgeworfen. Aber selbst da ging ich weder in Deckung, noch hätte ich mir erlaubt zu weinen.

Ich wuchs in die Rolle des Individiums mit eigener Denkweise und eigenem Handeln förmlich hinein. Ja, es machte mir Spass. Meine Mutter warnte mich oft. Aber wenn sie schon nicht den Mumm hat, dann mache ich das eben für uns beide. So war meine Antwort. Ich weiss nicht, ob sie stolz darauf war. Aber es war mir auch egal. Sie sollte schlichtweg begreifen, dass ich mich nicht von ihm zum Affen machen lasse. Ich würde nicht die Duckmaus spielen, die sie mir 15 Jahre vorlebte.

Dann kam irgendwann im Frühjahr 1999 der Tag, an dem sich das alles von selbst zu lösen schien. Ich war an dem Abend babysitten, als meine Mutter barfuss und total durch den Wind an der Tür stand. Ich fragte, was denn nun schon wieder sei. Kann sie mich denn nicht mal in Ruhe babysitten lassen, dachte ich.

„Dein Vater hat mich gewürgt. Doch jetzt zum letzten Mal – ich lasse mich scheiden.“ Sie war wohl an dem Punkt, an dem es klick gemacht hatte.

Von nun an hieß es nur noch „dein Vater hat, dein Vater macht, dein Vater usw usw.“ Was war ich genervt.

In einer Nacht- und Nebelaktion verließen wir die gemeinsame Wohnung und zogen für die nächsten 3 Monate zu meiner Oma mütterlicherseits. Die Scheidung lief als Härtefall schnell ab und wir konnten nach 3 Monaten zurück in die Wohnung. Mein Vater wohnte von nun ab in einem Wohnwagen. Klar, er terrorisierte uns in den nächsten 12 Monaten. Mal mehr, mal weniger. Und irgendwann hörte es auf. 

Die nächsten 18 Jahre hörte und sah ich nichts von ihm. Auch zu seinen Geschwistern, also zu meinen Tanten und Onkeln hatte er keinerlei Kontakt. Ich war auch sehr froh. Ich vergrub das alles. Schliesslich hatte mir meine Mutter das schön „antrainiert“, den äußeren Schein zu wahren. Ich begann, ihn zu verleugnen. Wenn ich nach meinen Eltern gefragt wurde, begann ich den Satz mit „ich habe nur meine Mutter….“. Das stellte die Fragenden schnell ruhig, wie ich schnell gelernt hatte.

Ich vergas seinen Geburtstag, sein Geburtsjahr und dachte auch bei der Geburt meiner zwei Söhne nicht an ihn. Er war kein guter Vater – so darf er auch keine Gelegenheit bekommen ein Opa zu sein. Das war die harte Devise….

Auch meinen Ehemann fütterte ich nur mit den nötigsten Infos. So nach dem Motto: "ja ich habe einen Vater, aber seit Jahrzehnten keinen Kontakt." Ich wollte einfach keinerlei bohrende Fragen. Damit gab er sich zufrieden und ich war glücklich darüber.

An meinem diesjährigen Geburtstag -wir saßen gerade nachmittags bei Kaffee und Kuchen- sagte mein Mann plötzlich: „Ah deine Tante hat angerufen, sie sagte Jürgen ist gestorben. Wer ist Jürgen?“

Ich fühlte erst mal gar nichts. Meinem Mann kann man keinen Vorwurft machen, ich hatte ihm nie den Vornamen meines Vaters gesagt. Er wusste also nicht, wessen Todesnachricht er mir eben übermittelt hatte. 

Plötzlich wurde mir schlecht. Darf das wahr sein? An meinem Geburtstag? Ich spielte die Coole. Niemand sollte mir meine Irritation anmerken. Ich ging direkt hoch und begann mit den Telefonaten. Noch am selben Abend fuhr ich ins Krankenhaus. Meine Mutter hielt sich direkt raus.

Dann zieh ich es halt allein durch, dachte ich mir. Ich schaffe das. 18 Jahre sind schließlich vergangen, ich habe nur schlechte Erinnerungen an ihn. Was sollte sein Tod daran ändern? Im Krankenhaus dann die Todesursache: Leberzirhose.

Ich bekam von seinen letzten Tage berichtet. Sie erzählten, dass er sich weigerte, jemanden zu informieren. Der Ärztin hatte er berichtet, dass er sich so sehr schämte, was für ein Leben er führte, wie er mit seiner Familie umgegangen war usw…

Ich tat auf cool. Nie im Leben würde ich mir anmerken lassen wollen, dass mich sein Tod so beschäftigt.

Sie gaben mir seine persönlichen Dinge in einer weißen Plastiktüte und sagten, ich müsse mich um die Auflösung seiner Ein-Zimmer-Wohnung kümmern. Genau ab diesem Zeitpunkt war ich total überfordert. Ich fuhr spät an diesem Abend – es war immer noch mein Geburtstag- in sein Apartment.

Ich hatte solche Angst, hineinzugehen. Er war doch mittlerweile ein fremder Mann. Ich hatte Angst etwas zu sehen, was ich nicht sehen wollte. Doch dann ging ich in die Wohnung. 

Die nächsten 5 Tage kümmerte ich mich um alles, ich packte es an. Und währenddessen änderte sich etwas in mir: Ich WOLLTE mich nun darum kümmern. Ich wollte alles ganz allein und pietätvoll erledigen, wollte niemandem den Nährboden bieten, sich den Mund zu zerreisen.

Und auf Kommentare wie „hat er sich nun doch noch tot gesoffen“ konnte ich getrost verzichten. Ich gab wirklich keinem die Chance zu hetzen, lästern oder sogar zu lachen.

An dem Punkt merkte ich, wie ich mit meinem Vater ins Reine kam. Ich verzieh ihm. Ich trauerte jetzt nicht um ihn als Vater. Dazu hatten wir durch seine Alkoholsucht und seine Persönlichkeit keine Basis.

Aber ich trauerte, wie einsam und unter welchen Umständen er „hauste“. Ich trauerte um ihn als Person, die er vielleicht gerne gewesen wäre.

Und ich war mir plötzlich sicher, dass er alles bereute. Dass er gerne die Zeit zurück gedreht hätte, gerne ein Vater gewesen wäre.

Nun weiss ich, dass der Spruch „egal was ist, Blut ist dicker als Wasser“ stimmt.

Ich selbst bin ein sehr konsequenter Mensch, ich bin eine gute Mutter, biete meinen Kindern die Liebe, die ich nicht kennengelernt habe. Wahrscheinlich gerade deshalb umso mehr. Und wenn ich die Chance hätte, ihm zu sagen, dass ich ihm verziehen habe – ich würde es tun.


4 comments

  1. Danke
    Für diesen Beitrag. Ich habe sehr ähnliches erlebt und es tut gut zu hören, dass man damit nicht allein ist.
    Danke dass ihr nicht nur die typischen Themen aufgreift

  2. Julia’s Erfahrungsbericht
    Eine sehr, sehr bewegende Geschiche in all ihren Facetten! Bemerkenswert die Entschlossenheit, sich nicht unterkriegen zu lassen und auch die Kraft, ihm zu verzeihen. Er wäre sicher gerne ein besserer Mensch gewesen…

  3. Danke julia
    Liebe julia, lieber kann sich vorstellen, wie du aufgewachsen bist . Dein Mut schon in jungen Jahren ist beeindruckend. Dein Mut, deinem Vater verziehen zu haben erscheint mir einer Besteigung des Mont Everest gleichzukommen. Ich hab mich hier nicht gemeldet, weil meine Mutter eine „zurückhaltende“ alkoholikerin ist. Dazu kommen paar Pillen. Sie ließ mich bei meinen Großeltern aufwachsen, hat mir meinen Vater vorenthalten und nach fünf Jahren Psychotherapie hab ich den Kontakt zu ihr abgebrochen! Es hat mich erleichtert! Und deinem mutigen artikel zu lesen, zeigt mir, dass ich nicht alleine damit bin. DANKE

  4. Kenn ich…
    Nur eher von meiner Mutter. „Den“ Vater gab es nicht, den hat sie mir genommen. Ich kann die Gefühle der Autorin völlig verstehen. Auch das spätere „Verzeihen“. Meine Mutter ist zwar nicht gestorben, nach 20 Jahren war der Kontakt durch den Tod der Großmutter wieder da.

    Man kann die Vergangenheit vielleicht nicht verzeihen, aber man kann seine Zukunft damit gestalten.

    Danke für den Gastbeitrag.