Abschied von Karlos – Eine Mutter kämpft um die Würde ihres Sternenkindes

Yvonne hatte bereits vier Kinder, als sich ein fünftes auf den Weg machte. Ein Junge. Für sie war immer der sechste Monat der Schwangerschaft eine magische Grenze. War diese Grenze überschritten, kaufte sie ein erstes Kuscheltier für ihr Kind. Für ihren kleinen Jungen sollte es ein Schaf werden, das sie in einem Laden in der Nähe entdeckt hatte.

Komisch, dass Yvonne schon zwei Wochen vor Erreichen des sechsten Monats diesen großen Drang hatte, das Schäfchen zu kaufen. So weit, so unspektakulär.

Doch als ihr Frauenarzt beim nächsten Kontrolltermin keinen Herzschlag mehr feststellte, wusste sie plötzlich, wieso. 

Karlos, so sollte ihr kleiner Junge heißen, war tot.

 

Yvonnes Arzt sagte, sie solle sofort ins Krankenhaus. Er sagte nicht, wie es jetzt weitergeht. Nur: Krankenhaus.

„Ich musste den Schock erstmal begreifen“, sagt Yvonne.

Sie fuhr nicht ins Krankenhaus, sondern nach Hause, dort hatte sie schließlich noch ein einjähriges Kind, das auf sie wartete. Und ihre drei großen Kinder. Und ihre Schwester, die sie angerufen hatte und nun bei ihr wartete, um sie zu trösten.

Am Nachmittag fuhr sie in die Klinik, am Nachmittag war sie bereit.

Ihr wurde sofort ein Zimmer zugewiesen, das überrumpelte sie. „Ich habe geweint“, sagt Yvonne.

Dann endlich kam ihre Hebamme. Die, die sie schon von den letzten Geburten kannte. Sie erzählte grob, was nun auf sie zukäme.

Das Kind natürlich kriegen?

Ein letzter Ultraschall. Sie drehten den Monitor weg. „Ich will mein Kind sehen“, sagte Yvonne. Sie wusste, dass dieser Anblick zu den wenigen gehören würde, an die sie sich später würde erinnern können.

Karlos. Ganz ruhig.

Yvonne hatte keine Beschwerden, ihr Mann würde erst in der Nacht kommen können, sie wollte warten, mit der Geburt, aber man drängte sie.

Es war Wochenende, kein Seelsorger erreichbar. Und sie in einer Schockwolke.
Jemand sagte, auf das Kind müsse ja nun keine Rücksicht mehr genommen werden, es gehe jetzt nur noch um Yvonnes Gesundheit. Eine Mutter will so etwas nicht hören.
„Ich gehe wieder nach Hause“, dachte Yvonne.

Sie ging nach Hause. Sie organisierte Betreuung für ihre Kinder. Sie weinte mit ihrem Mann. Sie packte ihre Tasche. Sie steckte das Babytuch ein, in das sie auch ihre anderen Kinder nach der Geburt gewickelt hatte.

Am Morgen fuhr sie erst einmal zu dem Laden, um das Schäfchen zu kaufen. Für Karlos.

Erst dann war sie bereit, ihn zu bekommen.

Die Geburt wurde eingeleitet. Sie wollte Ruhe, war aber immer in Begleitung. „Ich tue mir nichts“, versicherte Yvonne.

Nachts kam ihr kleiner Junge zur Welt.

23cm.

200 Gramm.

Karlos.

Er sah seinen Geschwistern ähnlich. Er war komplett fertig. Nur sehr sehr klein.

Sie wollte ihn in ihre Babydecke wickeln, aber niemand ging darauf ein. Sie legten ihn in eine Nierenschale. Ohne Kleidung. Einfach so. Mit seiner durchscheinenden Haut. Karlos.

Sie informierte die Familie, zwei ihrer Kinder wollten ihn sehen. Sie kamen. Sie nahmen Abschied vom kleinen Bruder. In der nächsten Nacht schliefen ihr Mann und ihr kleines Einjähriges mit bei ihr im Zimmer. „Das Schönste für mich in diesen schlimmen Stunden“, sagt Yvonne.

Am nächsten Morgen wurden sie entlassen.

Was passiert mit Karlos?

Das Schäfchen ließ sie ihm da.

Das Krankenhaus würde das mit der Stadt regeln, sagte man ihr. Sie sagten, sie könne anrufen, wann ihr Kind beigesetzt würde.

Am nächsten Tag telefonierte sie. Sie sagten, er würde am nächsten Tag beerdigt. Er käme in ein Sternenkindergrad. Sie könne ja am Abend vorbeikommen. Und ja, da war eine Stelle auf dem Grab, an der die die Wiese aufgegraben worden war. Wie unwürdig.

Diese Wiese durften sie nicht betreten. Es gab ein Mäuerchen, auf das man Blumen stellen durfte. „Es war so trostlos“, sagt Yvonne.

Täglich besuchte sie ihren Karlos. Dann fragte irgendwann ihr großer Sohn: „Warum liegt Karlos hier und nicht bei uns? Das ist doch hier nicht schön.“ Und das war genau das, was sie auch dachte. Sie meldete sich bei Selbsthilfeforen an und erfuhr, dass auch Sternenkinder schön begraben werden können. Dass das so nicht sein musste. Es begann ein Behördenmarathon.

Sie wollte einen Ort zum Trauern. Einen würdigen. „Es war das Einzige, das ich noch für mein Kind tun konnte“.

Sie sprach mit dem Pfarrer der Gemeinde, der ihr Unterstützung anbot. Sie kaufte ein Kindergrab für 310 Euro. Sie beauftragte einen Tischler, einen schönen Sarg anzufertigen. „Mein Sohn bekommt ein schönes Erdenbettchen.“

Zusammen mit ihren Kinder gestaltete sie den Sarg, klebten Sterne auf, schrieben „Bis wir uns im Himmel wiedersehen“ darauf. Zusammen mit dem Sarg gab sie dem Friedhofsverwalter auch die Babydecke mit, die im Krankenhaus keine Berücksichtigung gefunden hatte.

Dann beerdigten sie Karlos. Auf ihrem Friedhof, nach ihrer Vorstellung. Erst dann konnte Yvonne loslassen.

„Wir konnten uns verabschieden, das war das, was uns gefehlt hatte.“

Das Bedrückende war weg.

Yvonnes Ziel war, an ihr Baby denken zu können, ohne traurig zu sein. Das klappt noch nicht ganz, aber es wird besser. Yvonne sagt: „Karlos hätte das verdient“.

 

Hintergund: Yvonne erzählt ihre Geschichte, weil sie sich vor Karlos´ Tod nicht mit dem Thema auseinandergesetzt hatte und sich sehr allein gelassen fühlte. Sie wusste nicht, dass sie von Anfang an auf eine Bestattung hätte bestehen können. Sie wusste nicht, dass es Sternenkindfotografen gibt, die ehrenamtlich Bilder von still geborenen Babys machen – zur Erinnerung. Sie wusste nicht, dass es Ehrenamtliche gibt, die Himmelskleider für die letzte Reise der Kleinen nähen. Sie wusste nicht, dass sie im Krankenhaus hätte sagen können, dass sie zwei Wochen Zeit braucht, bis sie entschieden hat, was mit Karlos passieren soll. Sie wusste nicht, dass sie sich schon dort an einen Bestatter oder Seelsorger hätte wenden können.

In vielen deutschen Krankenhäusern werden Mütter sehr behutsam betreut darüber informiert, welche Möglichkeiten sie haben. In Yvonnes Fall war das nicht so. Und es ist ihr ein Anliegen, dass andere Mütter nicht auch in solche Situationen geraten.        

 

Zum Thema Sternenkinder möchten wir Euch auch noch auf folgende Artikel aufmerksam machen:

– Eva hat ein Blog über ihre Erfahrungen als Sternenkindmama geschrieben. Darin beschreibt sie den Tag, an dem kein Herzschlag mehr war. Und wie es sich anfühlt, nun noch einmal ein Kind bekommen zu haben.

– Tafjora schreibt ihrem Sternenkind nach sieben Jahren einen berührenden Brief.

– Im Hebammenblog könnt ihr den Geburtsbericht von Sternenkind Noah nachlesen. Ganz besonders zu Herzen ging mir dieser Sternenkind- Kommentar unter dem Geburtsbericht.

– Bei Von guten Eltern schreibt Anja als Hebamme darüber, dass wir Zeit zum Trauern brauchen und auch dann Anspruch auf Hebammen Hilfe haben.

– Die österreichische Hebammenzeitung hat einen hilfreichen und informativen  Text zur Hebammenhilfe bei stiller Geburt herausgegeben.


7 comments

  1. Nicht vergessen…
    Welcher Schmerz. Ich drücke Euch tapferen Mamas und denke jetzt sehr anders über meine sehr frühen „Sternchen“. Diese Kinder werden niemals vergessen und immer fehlen, aber wie sehr Wuerden sie fehlen haetten wir Sie 100 Mal im Arm gehalten… Viel Glück Euch allen. Xxx

  2. Ein Tabu brechen …
    Ich finde es toll, dass ihr dieses Thema mit in den Blog nehmt.
    Denn in diesem quirligen Leben mit kleinen Kindern ist oft kein Platz dafür und gerade hier muss dafür Platz sein.
    Unsere Kerze und unser Engel für unser Ungeborenes stehen sichtbar in der Küche.
    Meine Gefühle an unser kleines Sternenkind führen mich zu dem tollen Projekt von Himmelskleider. Der netten Seelsorgerin unseres Krankenhauses werde ich bestimmt den Kontakt zukommen lassen. Vielen Dank für die Informationen.

  3. Danke
    Für diesen Bericht. Er zeigt mir, wie viel Glück wir vor über 10 Jahren hatten, als unsere Sternenzwillinge in den Städtischen Kliniken in Oldenburg zur Welt kamen. Ganz offensichtlich wurde dort gut zu dem Thema fortgebildet. Und ich habe es bis heute nicht geschafft mich dafür zu bedanken.

  4. Unvorstellbar
    Ich kann nicht glauben, dass man nach dem Tod seines Babys jemals wieder glücklich wird. Jemals wieder lachen, feiern, man selbst sein kann. Und doch scheint es zu gehen. Das muss ich sehr bewundern.
    In der 22. Woche meinee Schwangerschaft musste ich mich im Krankenhaus liegend mit der Möglichkeit auseinander setzen mein Ungeborenes zu verlieren – verfrühte Wehen.
    Es hat mich fast wahnsinnig vor Schmerz gemacht. Die Vorstellung ängstigt mich bis heute, obwohl alles gut gegangen ist. Nichts ist mehr selbstverständlich. Ich habe immer noch jeden Tag Angst dass mein Baby aufhört zu atmen.
    Es tut mir so unfassbar leid, was den betroffenen Familien passiert, ich kann es nicht in Worte fassen. Es ist zum Weinen und schreiend ungerecht.

  5. Krankenhaus & Sternenkinder
    Ich möchte euch allen ganz feste danken! Es ist so wichtig, dieses traurige Thema aufzunehmen! Ich selbst kenne die Thematik von der „anderen Seite“ – als Hebamme. Der Umgang mit Sternenkindern hat sich in drn letzten 15 -20 Jahren extrem verändert. Und wie bei allen Bereichen, werden Veränderungen an manchen Orten schneller und an anderen Orten langsamer akzeptiert und implementiert. was hilft, sind Frauen, welche ebenfalls überihr Rechte und den erwiesenermassen psychologisch sinnvollen Umgang mit Sternenkindern Bescheid wissen. Befasst euch mit dem Thema! Auch wenn es weh tut, redet mit den betreuenden Hebammen/Pflegenden (wobei ich in keiner Art und Weise Yvonne kritisieren möchte!) damit nie mehr eine Babydecke nicht gebraucht wird!

    1. Danke Shiri!

      Genau deswegen veröffentlichen wir diese Geschichte hier. Damit sich auch in den letzten Winkeln die Veränderung herumspricht. Und damit Mütter wissen, welche Möglichkeiten sie haben!

      Liebe Grüße und Danke für diesen wichtigen Kommentar!