Gastbeitrag: „Ich wuchs als Kind in faschistischen Strukturen auf“

Ihr Lieben, wir haben in den letzten Tagen mit vielen Leserinnen über die Vorfälle in Chemnitz gesprochen bzw. geschrieben. Wir haben viel positive Resonanz erhalten, dass wir uns hier in unserem Blog klar gegen Rechts positionieren, wir haben aber auch Inhalte löschen mussten, die klar über das hinausgingen, was wir für tragbar halten.

Unter anderem schrieb uns auch Kristin, die Mutter einer kleinen Tochter ist und ganz persönlich vor faschistischen Strukturen warnen möchte – weil sie selbst in welchen aufwuchs. Kristin, wir danken dir sehr für dein Vertrauen! Und wir sind voller Respekt vor deiner klugen Schlussfolgerung aus all dem, was du erfahren musstest. Hier kommt ihre Geschichte – und welche Lehren sie daraus gezogen hat.

"Ich habe lange überlegt, ob ich das hier schreiben soll, aber mich – aufgrund der Bilder aus Chemnitz vom vergangenen Wochenende – dafür entschieden. Ich bin in faschistischen Strukturen aufgewachsen. Nicht in politisch-faschistischen, aber in zwischenmenschlich-faschistischen. Meine Mutter teilte ihre beiden Kinder ein in Obermensch und Untermensch. In einen Sohn, der schlau und sportlich war und dem deshalb alles zustehen sollte. Und in eine Tochter, die ein hässlicher, dummer Vollversager war.

Mein Bruder – und meine Mutter – waren die Obermenschen, ich war der Untermensch. Der mit 14 anfangen musste, Geld zu verdienen. Der – als dummes Mädchen – fürs Putzen, Waschen und Bügeln zuständig war. Der immer, wenn er lesen oder lernen wollte, dafür fertiggemacht wurde. Und dem irgendwann prinzipiell das Lesen und Lernen untersagt wurde.

Flippte meine Mutter aus, schlug sie zu. Einmal, ich hatte ein Darmverschlingung, hat mich eine Not-OP in letzter Minute gerettet – meine Mutter hielt meine Schmerzen für gespielt. Ich nannte es schon früh das Kinder-KZ.

Mit 18 habe ich das Weite gesucht, aber versucht, weiterhin (limitierten) Kontakt zu halten. Zu reden, immer wieder zu erklären, mich zu erklären. Psychologisch verständlich, aber natürlich vergeblich. Irgendwann forderten Mutter und Bruder prinzipielle Tributzahlungen ein. Sein Studium war teuer, er sollte selbstverständlich auf eine Privat-Uni gehen. Und in den Semesterferien standen natürlich weltweite Praktika an.

Jobben gehen, um meinem Bruder sechs Wochen New York zu finanzieren? Wie irre war das denn? Ich weigerte mich. Daraufhin wurde es noch einmal schlimmer. Meine Mutter schaffte es durch eine Intrige, dass mein erstes Bafög auf ihr Konto überwiesen wurde statt auf meins. Als ich das nach acht Wochen herausbekam und ändern ließ, waren trotzdem zwei komplette Monatszahlungen futsch. Über 1.200 Euro, sehr viel Geld.

Sie tobte. Das Bafög-Geld sei ihres, nicht meins. Schließlich habe sie 18 Jahre lang dafür bezahlt, dass ich ein Dach überm Kopf hatte – das würde sie sich zurückholen! Ich blieb hart. Danach kamen offene Drohungen: Wie schnell es gehen könne, dass ich "aus Versehen" überfahren würde, dass ich schwer verletzt im Koma läge und man dann im Krankenhaus die Maschinen abstellen würde. Herrenmenschen- und Allmachtsphantasien. Selbst da versuchte ich immer noch, im Gespräch zu bleiben.

Kaum war ich im Job, hatte eine feste Stelle und verdiente gut, nahm sich meine Mutter einen Anwalt. Der holte das Sozialamt mit ins Boot. Meine Mutter hatte nämlich das Geld aus ihrer Lebensversicherung an meinen Bruder verschenkt, ihm zudem ihre Eigentumswohnung überschrieben und forderte nun – sich arm gerechnet habend – Elternunterhalt von mir. Ein Jahr dauerte es, bis das Gericht final entschieden hatte, dass ihre Schenkungen an meinen Bruder rückgängig zu machen sind und ihre Forderung an mich unrechtmäßig ist.

Meine Mutter tobte ein letztes Mal, aber dann war – endlich – Ruhe.

Ich habe viel zu spät begriffen, dass das ganze Reden und Wohlwollend-in-Kontakt-Bleiben mit selbsternannten Herrenmenschen nutzlos ist. Es erreicht sie nicht.

Ich habe viel daraus gelernt. Vor allem, dass Menschen, die in faschistischen Kategorien denken, Freundlichkeit als Schwäche empfinden. Und ihre Denkstrukturen natürlich nicht einfach deshalb hinterfragen, weil man mal ein empathisches Gespräch mit ihnen führt. Sie beziehen ihren Selbstwert daraus, andere als minderwertig zu betrachten – und sie ausbeuten zu dürfen.

Solche Menschen wissen genau, was sie tun – und warum sie es tun. Sie tun es aber trotzdem.

Bei mir ist das alles gut verarbeitet, aber manchmal – wie in diesen Tagen, wenn ich die hasserfüllten Gesichter der Chemnitzer Nazis sehe und diese „Wir werden sie töten“-Sätze höre – ploppen die Erinnerungen wieder hoch.

Ich habe aus alldem vier Lehren gezogen – und das ist der Bezug, den ich zu den Chemnitzer Ausschreitungen sehe:

  • 1. Man muss viel früher als ich es getan habe, nämlich genau jetzt, aufhören zu reden und anfangen zu handeln. Und sei es, indem man die leichteren Fälle (wie Sarrazin) einfach ignoriert.
  • 2. Es gibt Menschen, die sich jenseits des allgemeinen abendländischen Wertekonsenses befinden. Denen muss man mit der ganzen Härte des Gesetzes kommen. Unsere Gesetze sind – auch als Folge der Nazi-Zeit – gut so, wie sie sind. Aber man muss sie in all ihren Möglichkeiten, die sie bieten, eben auch anwenden.
  • 3. Die Freiheit muss man sich manchmal halt erkämpfen.
  • 4. Und am wichtigsten: Man darf keine Angst haben. Es sind einfach nur widerwärtige jämmerliche Faschos. Das Leben ist trotzdem schön.

 


20 comments

  1. Erschreckend
    Vielen Dank an die Autorin für ihren Mut, sich hier mit ihren so persönlichen Erfahrungen zu exponieren! Die Kommentare zeigen, dass es wirklich nicht ohne ist, wenn frau sich zu faschistischen Tendenzen äußert.
    Natürlich gibt es auch in Familien faschistoide Strukturen, die zu denen auf gesellschaftlicher Ebene Parallelen zeigen. Und so kam man auch Schlüsse aus dem Einen fürs Andere ziehen. Zumal die gesellschaftlichen Strukturen ja auch in gesellschaftlichen Gruppen, u.a. Familien, fußen.
    Wehret den Anfängen und lasst unsere Kinder in demokratischen Strukturen aufwachsen, in unseren Familien, in unseren Kitas und Schulen!
    Die besten Wünsche für die tapfere Autorin, die sich hoffentlich von kritischen Kommentaren gut distanzieren kann. Alles Gute für eine glückliche Zukunft! Yves

  2. faschistisch
    Faschismus bezeichnet eine nationalistische und antidemokratische Politik. Die Einteilung in Herren- und Untermenschen dagegen ist ein Auswuchs des Nationalsozialismus. Vielleicht hängen diese Dinge mit psychisch gestörten Persönlichkeitsstrukturen zusammen. Klar. Aber jetzt eine Kleinfamilie herauszunehmen und mit Faschismus und dieswiederum mit Chemnitz in einen Topf zu werfen- hä? Was für ein Quark. Das ist genausounzulässig für mich wie gefühlig-impfkritischen Menschen ohne vernünftige Argumente eine Plattform zu bieten. Fragwürdig für ein Blog mit Anspruch und Reichweite.

  3. Starke Frau
    Vielen Dank für diesen Beitag.

    Es ist auch ein bisschen die Geschichte meiner Mutter, die von ihrer Mutter als Bedienstete des jüngeren Bruders abkommandiert wurde. Die Darmverschlingung war in ihrem Fall eine Blinddarmentzündung, an der sie, 13-jährig, fast verstorben wäre. Anders als die Autorin ging sie nicht weg, statt ihr eigenes Leben zu leben, hing sie noch bis zum Tod ihrer Mutter an ihr. Es war so als würde sie alles versuchen, doch noch einen Liebesbeweis zu bekommen. Auch wenn sie beruflich stark war und auf eigenen Beinen stand.

    Ich finde die Parallele zum Faschismus nachvollziehbar. Der Faschismus basiert auf unreflektiertem Selbsthass. Vor allem können Anhänger von faschistischen Ideologien keine Schwäche dulden. Die eigene dürfen sie nicht wahrnehmen. Stattdessen projizieren sie das Schwäche auf andere, die sie dann richtig hassen, quälen und fertigmachen dürfen. Im Einzelfall beim Mobbing in Familie und Beruf, als Gruppenphänomen in der Verfolgung, Ausgrenzung und schließlich im Extremfall der Ermordung von Menschen, die sie als schwach und damit unwürdig erachten. Dazu gehören Menschen mit besonderen Herausforderungen, Homosexuelle, Menschen mit dunkler Haut, fremder Herkunft, politische Gegner, physisch und psychisch erkrankte Menschen. Diese Liste lässt sich weiter fortsetzen.

    Wer bezüglich dieses Vergleichs noch Bedenken hat, dem empfehle ich Arno Gruens Klassiker „Wider den Gehorsam“.

    Vor der Autorin möchte ich den Hut ziehen und ihr alles erdenklich Gute wünschen. Am Ende gewinnt die Goldmarie! Liebe Grüße, Ute

  4. Nachvollziehbare Parallelen
    Ich finde die von der Autorin gezogenen Parallelen zu Chemnitz und unser aller Problem mit faschistischen Gesellschaftsströmungen absolut nachvollziehbar.
    Diese „Herrenmenschen“sind menschliche Existenzen, denen vermutlich bereits im Kindesalter jeglicher moralischer Wertekodex vorenthalten wurde. Vor diesem Hintergrund gibt es auch einen netten neuen Blogpost von Herbert Renz-Polster. Umso beachtlicher finde ich die Resilienz und Widerstandsfähigkeit der Autorin und ihren guten, tapferen Werdegang! <3

  5. Titel
    Ich denke, dass lediglich der Titel des Blogbeitrags missverständlich ist. So erwartet man natürlich einen Bericht über eine Kindheit in einem faschistischen Regime. Lautete der Titel „Ich wuchs als Kind in einer Familie mit faschistischen Strukturen auf“ wäre die Leserführung freundlicher gewesen.

    1. Mutmaßlich
      korrekt wäre „Ich wuchs mit einer narzisstischen Mutter auf“.
      Das ist natürlich immer noch reine Küchenpsychologie, würde aber immerhin keinen unzulässigen Zusammenhang zum Faschismus herstellen.

      1. Sehe ich anders. Die
        Sehe ich anders. Die Grundprinzipien sind die gleichen. Narzissmus ist eine Folge von aus der Kindheit erfahrener Demütigung und Kränkung. Die führen dazu, dass man andere demütigt und kränkt. Das ist jetzt sehr sehr vereinfacht zusammengefasst. Sehr gut beschrieben ist der Zusammenhang zwischen Faschismus/NS-Ideologie und Erziehung bei Arno Gruen „Wider den Gehorsam“, Theodor W. Adorno: „Erziehung nach Auschwitz“ und Alice Miller :“Am Anfang war die Erziehung“.

  6. Vielen Dank
    Liebe Kristin!
    Vielen Dank für deinen wichtigen Beitrag! Was du beschreibst sind faschistische Strukturen im „Kleinen“ mit den Auswirkungen für die einzelnen Menschen, das finde ich sehr wichtig und gut erzählt.
    Vielen Dank für deinen Mut und viele Grüße

  7. Doch kann man und muss man
    Den die psychologischen Muster und Mechanismen die greifen sind die selben. Es ist sogar hilfreich diese Beispiele zu lesen und die Geschehnisse herunter zu brechen, so dass Strukturen deutlich werden und Bezüge hergestellte werden können….

  8. Nicht alles was hinkt ist ein Vergleich
    Bei allem Mitgefühl für das durch Kristin Erlebte und Erlittene – es gibt keinen Bezug zu den Ereignissen in Chemnitz.
    Hier wurden einfach willkürlich begrifflich zwei Dinge vermengt – eine furchtbare Kindheit mit einer wohl wahrscheinlich narzisstischen Mutter mit einer Bewegung, mit Bürgern, die ihren Unmut auf die Straße bringen und zum geringeren Teil ekelhafte, verfassungsfeindliche und undemokratische Gedanken äußern.
    Ich finde eine Vermischung dieser beiden Themen unzulässig.
    Man kann über ´Beides getrennt sprechen, aber nicht in dieser Verquickung!

    1. Gefühle sind niemals „unzulässig“
      Liebe Carina, in unseren Gastbeiträgen äußern Leserinnen ihre ganz persönliche Sicht auf die Dinge. Seit sie die Bilder aus Chemnitz gesehen hat, ploppt bei Kristin wieder ihre Erinnerung hoch. Die „Verquickung“, wie du sie nennst, ist also als Gefühl bei unserer Leserin aufgetaucht und somit absolut legitim. Besonders der Satz „Sie beziehen ihren Selbstwert daraus, andere als minderwertig zu betrachten“ ist einer, der – fern jedes persönlichen Gefühls – aber auch objektiv einfach zu beiden passt. Was wir sagen wollen: Unsere Leserin hat das so empfunden und Gefühle sind niemals „unzulässig“.

      1. Totschlagargument
        Liebe Lisa, ich schätze eure eindeutige politische Haltung, auch wenn ich das Thema „Chemnitz“ wesentlich komplexer sehe, aber hier benutzt du das Totschlagsargument „Gefühle sind niemals unzulässig“.
        Richtig, sind sie nicht.
        Aber das aufgeklebte Etikett ist falsch, wir müssen sorgsam mit Worten umgehen und können nicht auf jedes abweichende Verhalten das Etikett „faschistisch“ kleben.

        1. Nochmal
          Ich finde es gut, dass du dir so komplexe Gedanken dazu machst. Und ich finde es gut, in den Dialog zu treten. Darum noch ein Erklärungsversuch: Hier geht es nicht um „Totschlagargumente“, sondern darum, dass sich unsere Leserin so fühlt wie sie sich fühlt. Das Label „faschistisch“ lässt sich in diesem Kontext kritisieren, nicht aber, dass sie sich mies fühlt, wenn Menschen von anderen Menschen diffamiert werden – einfach nur, weil sie ihnen aus welchem Grund auch immer nicht passen.

    2. sehe ich genauso!
      Auch ich finde die Verbindung beider Themen und den Bezug zu Chemnitz leider mehr als befremdlich. Die persönliche Geschichte hat in meinen Augen absolut nichts mit den aktuellen Geschehnissen zu tun, Gefühle hin oder her. Im Gegenteil, ich finde es gefährlich und unpassend, hier Vergleiche zu ziehen.

      LG Lilly

      1. Zustimmung
        Das war beim Lesen heute morgen auch mein erster Gedanke: Was hat das mit Chemnitz zu tun? In Chemnitz geht es um Ausländerfeindlichkeit, Fremdenhass und Rassismus. Was die Autorin erlebt hat, ist Kindesmisshandlung. Hat nichts mit Rassismus zu tun. Habe das Gefühl hier wollte zwingend ein passendes Thema konstruiert werden. Ging gründlich schief.

        1. Nein!
          Nein, hier sollte nicht zwingend ein Zusammenhang hergestellt werden. Der Text sprudelte nach den Bildern aus Chemnitz einfach aus unserer Gastautorin raus.

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