Interview mit Doreen: Mein Kind war todkrank – trotzdem habe ich mich gegen eine Abtreibung entschieden

Ihr Lieben, in den letzten beiden Tagen haben bei uns Frauen erzählt, die sich für einen Spätabbruch entschieden haben (Warum ich mich gegen ein Kind mit Down-Syndrom entschied und Spätabbruch ja oder nein – die wohl schwerste Entscheidung meines Lebens). Die Beiträge haben viele von Euch berührt und uns alle zum Nachdenken angeregt. Was uns ganz wichtig ist: Wir bewerten oder urteilen über keine dieser Entscheidungen – wir hatten das Glück, bisher nicht in solch einer Situation zu sein. Wir bedanken uns sehr bei den Autorinnen, dass sie uns so offen von ihrem Schicksal berichtet haben. 

Heute dürfen wir Euch Doreen vorstellen, die sich gegen einen Abbruch entschieden hat – owbohl bereits früh klar war, dass eins ihrer Zwillingsmädchen nicht lebensfähig sein würde. 

Liebe Doreen, Du warst mit eineiigen Zwillingen schwanger, als in der 11. SSW festgestellt wurde, dass ein Kind gesund und ein Kind krank ist. Welche Krankheit wurde diagnostiziert?

Auf dem Ultraschall wurde eine Art Lymphödem bei einem der Mädchen, der kleinen Hope, entdeckt. Ich musste dann in die Uni Klink zum 3D-Ultraschall. Das Lymphödem wurde dort bestätigt und man hat noch Fehlbildungen und eine offene Bauchdecke gesehen. Die spätere Diagnose war "Body Wall Syndrom oder auch Body Stalk Syndrom". Die body stalk Anomalie – auch Syndrom der fehlenden bzw. kurzen Nabelschnur genannt – zählt zu den vorderen Bauchwanddefekten und tritt mit einer Häufigkeit von 1:14000 sehr selten auf. Seit 1965 gibt es wohl weltweit nur 5 Fallberichte bei Zwillingen. Dabei sind die Organe außerhalb des Körpers, die Wirbelsäule ist stark verkrümmt. Hope hatte auch noch weitere Fehlbildungen.

Kannst Du erzählen, wie der Arzt/die Ärztin die Diagnose gesagt hat und was Du dabei gefühlt hast?

Die Mitteilung der Diagnose von Hope war sehr kühl und plump. Es wurde mir gesagt welche Fehlbildungen Hope hat. Dann musste ich gleich einen Zettel unterschreiben, dass ich dies verstanden habe. Unterschrieben habe ich zwar, verstanden habe ich es aber nicht. Mir kam es vor als sei jemand in meine Schwangerschaft reingeplatzt und hätte was kaputt gemacht. Ich war erschüttert nach dieser Untersuchung und noch viel mehr als man mir von "möglichen Eingriffen" erzählte.

Hast Du noch weitere Tests/Untersuchungen gemacht?

Ich musste fast alle 2 Wochen zu Kontrolluntersuchungen in die Uniklinik. Ich hatte mir auch eine Zweitmeinung bei einem anderen Gynäkologen geholt. Der konnte mir leider keine Hoffnung schenken und hat die Diagnose bestätigt. Die Uniklinik hat mich dann noch zu einem Professor der Berliner Charité überwiesen, der sich mit seinem 4D Ultraschall noch besser das "kranke Kind" (wie es oft genannt wurde von den Ärzten) ansehen sollte. Nach dem Ultraschall rang er damit, Worte zu finden. Auch er bestätigte die Diagnose und erklärte mir, dass es für Hope keine Überlebenschancen gibt und ein hohes Frühgeburtsrisiko besteht.

Wie hat Euer Umfeld /Freunde/ Verwandte auf die Diagnose reagiert?

Mein Umfeld war mit der Diagnose überfordert. Das konnte ich verstehen. Was sagt man einer werdenden Mutter in so einer Lage? Kann man ihr Mut zusprechen? Manche fragten, ob ich die Kinder wirklich will, ob es nicht besser wäre, die Schwangerschaft abzubrechen. Das hat mich wütend gemacht. Wer bin ich, dass ich über Leben und Tod entscheide? Selbst wenn ich mich für eine Abtreibung von Hope entschieden hätte – dann hätte ich auch das Leben des anderen Mädchens, der kleinen Grace ,gefährdet.

Wie hast Du mit deinem Partner besprochen, wie ihr weiter vorgeht? Wart Ihr Euch sofort einig?

Mit meinem Partner konnte ich nichts besprechen können, denn den gab es nicht. Ich hatte eine Affäre und der Erzeuger war nicht Teil meines Lebens. Das war alles nicht geplant. Eigentlich hatte ich mir meine Familienplanung ganz anders vorgestellt.Nur manchmal spielt das Leben einen anderen Ton. Und dann muss man die Melodie dazu finden.

Warum war Abtreibung absolut keine Option für Dich?

Schon als junges Mädchen stand für mich fest, dass ich niemals abtreiben würde. Ich bin der Meinung, dass die Natur oder auch Gott vieles regelt. Dinge kommen, Dinge gehen. Man gewinnt, man verliert. Manche Sachen kann man beeinflussen und selbst in die Hand nehmen. Dann gibt es Dinge, bei denen ich Mensch bin, wo mein Herz dabei ist. Wo mich Dinge berühren, mir zutiefst nahe gehen. Als ich schwanger war, war ich Mutter von Anfang an. Ich hatte die ganze Schwangerschaft Hoffnung über, dass sich alles wendet, das Hope mit ihrer Entwicklung nachzieht, dass sie kämpft, dass man vielleicht nach der Entbindung chirurgisch korrigieren kann.

Ich wollte beiden Kinder die Chance auf Leben geben. Ich wollte nicht entscheiden, wer lebt und wer nicht. Ich wollte nicht, dass Hope von uns geht. Ihr Herz schlug, sie hatte alle lebenswichtigen Organe. Dieses Leben sollte ich beenden? Nein. Auch wenn mir bewusst war, dass Hope nicht lebensfähig ist, dann sollte sie wenigsten so lang leben wie es ihr kleiner Körper schafft. Zusammen mit ihrer Schwester!

Abtreiben was "krank" ist, was nicht passt? Unsere Gesellschaft möchte perfekt sein. Meine Hoffnung war immer, dass es Hope irgendwie schafft und ich hatte mich darauf vorbereiten evtl. ein Kind mit körperlichen Einschränkungen und ein uneingeschränktes Kind zu haben. Alleinerziehend! Der Chefarzt hat mich dafür verurteilt und war stark gegen meine Entscheidung beide Kinder auszutragen. Er wollte zur Entbindung etwas Narkotikum spritzen und das Leben von Hope im Mutterleib beenden. Mit solch einer Diagnose ist das ja bis zum Ende der Schwangerschaft machbar, nach der Entbindung wäre es Mord. Ich wusste für mich, dass dies für mich keinen Unterschied macht!

Wie bist Du damit umgegangen, zu wissen, dass ein Kind nicht lange leben wird?

Nach der Diagnose hatte ich unzählige schlaflose Nächte und hab mir viel Gedanken gemacht. Wie wird es sein? Was kann ich tun? Wie schaffe ich das alles? Und natürlich die große Frage: "WARUM"? Zu dieser Frage bekommt man ja selten oder keine Antwort, und auch ich hab sie nicht gefunden. Ich habe mich im Laufe der Schwangerschaft damit arrangiert, dass die Situation so ist wie sie ist. Ich habe angefangen es zu akzeptieren und jeden Tag so gelebt wie er kam. Und damit hatte ich Frieden. Denn ich konnte nichts ändern. Ich konnte nichts anders machen, damit sich was ändert.

Kannst Du vom Tag der Geburt erzählen?

Eigentlich hatten wir einen Termin zur Entbindung festgelegt. Da ich durch diverse Komplikationen nicht normal entbinden konnte, war nur ein Kaiserschnitt möglich. Geplant war der 9.5.2011, wobei der eigentliche errechnete Geburtstermin der 06.06.2011 war. Durch meine starken körperlichen Belastungen (Karpaltunnel Syndrom, massive Wassereinlagerungen an Händen und Füssen, starke Rückenschmerzen) einigten wir uns auf den früheren Termin. Am 30.04. habe ich tagsüber Wasser verloren und noch gelacht, dass ich es jetzt schon nicht mehr auf die Toilette schaffe. Nachts bin ich dann im nassen Bett aufgewacht und vermutete einen Blasensprung. Dem war auch so und die Kaiserschnitt-OP wurde am 01. Mai 2011 auf 9 Uhr angesetzt. Zu meinem Glück wurde ich die letzten Wochen von einem sehr verständnisvollen Oberarzt behandelt, der an diesem Tag Bereitschaft hatte und rasch vor Ort war.  Alles ging dann so schnell, die Anästhesievorbereitung und eine kurze Wartezeit. Ich war überrumpelt, dass ich jetzt schon im Kreißsaal lag und dann meine Kinder auf die Welt kommen.

Oh Gott. Hilfe. Ich hatte Angst.

Ich erinnere mich an den hässlichen, alten Kreißsaal, hellblaue Fliesen, sehr klein und überall Leute. Hebammen, Ärzte, Schwestern, Anästhesisten, eine sehr gute Freundin, die mir zur Seite stand, und ich. 14 Menschen insgesamt. Irgendwann ging es los, Desinfektion, Schnitt, das Öffnen meines Bauches.

9.30 Uhr: das Schreien eines Babys, meine Grace. Man hat sie mir kurz gezeigt, dann wurde sie versorgt.

9.32 Uhr wurde Hope geboren, es war still. Sie wurde gleich versorgt – ohne dass ich sie gesehen habe.

Nachdem mein Bauch wieder zu war, brachte man mich aufs Zimmer, wo ich voller Angst wartete. Was wird man mir sagen? Wie geht es meinen Mädchen? Dann endlich kam der Oberarzt und auch ein Kinderarzt. Grace hatte leichte Probleme mit der Atmung und wurde auf der ITS beatmet.

Für Hope gab es keine Chance, sie lag im Wärmebettchen und wurde mit Schmerzmittel versorgt – bis sie weiter zieht. Man wollte sie fertig machen und zu mir bringen. Ich glaube, dass Hope ihre Schwester Grace begleitet hat und ihr den Weg in diese Welt gezeigt hat.

Eine Stunde nach der Geburt ist Dein Kind gestorben – hast Du das "klar" erlebt oder eher wie unter einer Glocke?

Eine Stunde ging so schnell vorbei. Ich konnte ihr nicht mehr sagen, wie sehr ich sie liebe, ich konnte sie nicht trösten und bei ihr sein, als sie starb. Sie ist einfach eingeschlafen, meine kleine Prinzessin.

Hope wurde mir dann gebracht. Sie war schön angezogen und in eine Decke gekuschelt. So friedlich, so wunderschön. Ich habe sie in meinem Arm gewogen, hab an ihr gerochen, sie geküsst, ich war ihr noch einmal, nur einmal so nah. All das war ein Film, alles so schnell. Ich hätte gern vieles anders gemacht. Hätte Hope länger bei mir gehabt, einfach im Bett neben mir. So hatten wir nur 20 Minuten.

Durch den Kaiserschnitt war ich ans Bett gebunden und konnte nicht aufstehen, um auf die Kinder- ITS zu gehen. Mein Bett hätte nicht durch die Türen der ITS gepasst und so musste ich bis zum nächsten Tag warten, um Grace zu sehen. Das war so schwer und ich erinnere mich, dass ich immer wieder danach gefragt habe, sie sehen zu können. Ich war körperlich so erschöpft, dass ich eine ordentliche Mütze Schlaf gebraucht hätte. Doch schlafen konnte ich nicht. Ich starrte aus dem Fenster und weinte. Immer und immer wieder. Ich fühlte mich leer, taub, allein, fast ohnmächtig und wartete noch immer auf mein Wunder. Es kam nicht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Welche Vorbereitungen hattest Du für eine Beerdigung getroffen?

Ich hatte keine Vorbereitungen getroffen. Ich wollte der Hoffnung Raum geben, wollte sehen, was ist, wenn es so weit ist. Ich wollte nicht voreilig handeln. Ich wollte nicht schon das Begräbnis arrangieren und den Tod erwarten. Ich habe gehofft und das bis zum Schluss.

Deine Kinder heißen Hope und Grace – wie bist Du auf diese bedeutungsvollen Namen gekommen?

Ich habe einige Jahre in England gelebt und daher kam der Wunsch nach englischen Namen. Noch bevor ich wusste, dass ich 2 Mädchen erwarte, hatte ich die Namen gefunden. Oder sie haben mich gefunden? Hope – die Hoffnung, Grace – die Anmut, die Gnade/Güte. Das war passend für uns. Ich hatte immer Hoffnung und auch immer Gnade in meinem Leben erlebt.

Wie geht es Dir heute, Grace zu sehen und zu wissen, dass ein Kind fehlt?

Heute, 5 Jahre danach, geht es mir gut. Ich habe wunderbare Töchter – eine an meiner Seite und eine, die irgendwo durch Wiesen hüpft, Grasflecken an ihrem weißen Kleid hat und die in ihrem anderem Leben angekommen ist. Sie ist perfekt, da wo sie jetzt ist.

Mittlerweile bin ich meinen perfekten Gegenüber begegnet, meinem Deckel oder wie man das nennt. Für mich ist er der Beste und alles, was ich mir je gewünscht habe. Und für Grace ist er wie ihr Papa.


6 comments

  1. Zauberhaft
    so kann ich es mir vorstellen, genau wie du es beschreibst, Hope ist an einem schönen Ort und immer bei Euch im Herzen.
    Erleichternd, dass man noch ein Kind hat, dennoch schwer, weil man im Zwilling wahrscheinlich doch auch immer noch die andere Schwester sieht.
    Schön, das du dein Leben glücklich lebst, und wunderbar, das Hope und auch Grace, wenn auch nur für kurz, sich lebend kennenlernen durften. Meinen größten Respekt für diese tolle Entscheidung!

  2. Danke
    …für diesen unendlich traurigen und gleichzeitig so positiven, kraftvollen Bericht. Es ist so wahnsinnig stark, was du geschafft hast. Ich freue mich sehr für Dich und Grace, dass ihr Drin Gegenüber und für Grace einen Papa gefunden habt. Das Bild von Hope, die im weißen, grasbedeckten Kleid über die Wiese hüpft, ist zauberhaft.

  3. Danke für deinen Bericht, der
    Danke für deinen Bericht, der auch mich zum Weinen bringt. Ich finde es so bewundernswert, wie du das Leben annimmst und dich seinen Herausforderungen stellst. Ich wünschte mir nur, dass du im Krankenhaus die Zeit mit Hope zusammen hättest verbringen dürfen.

  4. Danke für diesen ehrlichen
    Danke für diesen ehrlichen Bericht, der mich zum Weinen bringt. Du bist eine tolle Frau und Mutter! Alles Liebe!

  5. Wundervoll!
    Ich wünsche Ihnen alles Liebe dieser Welt!
    So schön zu sehen, dass Menschen wie die kleine Hope ihren Weg finden dürfen und wir uns nicht anmaßen Richter zu spielen…

    Danke für den Mut zum Teilen. Hoffentlich macht das Betroffenen Mut, die in einer ähnlichen Situation sind…