Interview mit Line: Wir lebten mit unseren sieben Kindern ein Jahr in der Wildnis

Ihr Lieben, wer von Euch könnte heute noch ohne Handy leben? Oder ohne Kühlschrank? Ohne fließend Wasser? Geht nicht, denkt Ihr? Geht doch, sagt Line. Sie hat gemeinsam mit ihrer Partnerin und ihren sieben Kindern meherere Monate in der Wildnis in Nordamerika gelebt – fern ab jeder Zilivilation. Wie das geht, was das den Kindern gebracht hat und ob sie etwas vermisst hat, lest Ihr bei uns im Interview. Danke für diesen spannend Einblick in Euer Leben, liebe Line! 

Liebe Line, Du hast mit gemeinsam mit Deiner Partnerin und Euren 7 Kindern fast ein Jahr in der Wildnis in Nordamerika gelebt. Gab es einen Auslöser für diesen Umzug? Und kannst Du erklären, was Wildnis genau bedeutet?

Im Rahmen einer Wildnislehrerausbildung sind wir als Familie in die Wälder Nordamerikas gezogen. Die nächste Stadt war zu Fuß etwa 4-5 Stunden weit entfernt. Allerdings hatten wir ein Notfallauto in der Nähe stehen, das jedoch nie gebraucht wurde. Ein Telefon hatten wir nicht, denn die zivilisatorischen Dinge waren auf ein Minimum reduziert und ein Telefon gehörte nicht dazu.

Zu Beginn haben wir in einem Zelt geschlafen, sind dann aber in selbstgebaute Hütten und unter ein Lean-to gezogen. Die Hütten haben wir so gebaut, wie sie von den dort früher lebenden Indianern gebaut haben. Ein Lean-to ist eine Art „Carport“ und wir konnten nachts den Sternenhimmel sehen.

Als Du Dich zu diesem Schritt entschieden hast, waren ja einige Kinder schon Teenager. Wie war ihre erste Reaktion? Und wie die Eurer Freunde und Verwandter?

Die Kinder haben sich, mit Ausnahme des Ältesten, alle gefreut. Er musste erst einmal darüber nachdenken, was das für Konsequenzen für ihn haben würde. Schließlich hat er sich entschlossen mitzugehen und hat es nach eigener Aussage nicht bereut. 

Unsere nähere Verwandtschaft hatte kaum Verständnis für dieses Projekt. Unsere Freunde jedoch fanden es durchweg gut oder mutig. Für uns war jedoch in erster Linie wichtig, was wir selbst darüber denken.

Was war Anfangs die größte Umstellung? Hattet Ihr Anlauf-Schwierigkeiten?

Unsere größte Schwierigkeit war das Leben in einem Clanverbund. Vorallem, weil wir als Vegetarier mit Leuten zusammen lebten, die Fleisch aßen. Zu sehen, wie die Tiere ausgenommen werden, der Geruch der Kadaver und auch die Essenzubereitung, all das war eine Herausforderung für uns.

Wenn Rehköpfe mit dem Tomahawk abgetrennt und Augen gegessen werden, dann muss man da schon irgendwie alles neu sortieren.

Die Umstellung in die Natur an sich hat uns keine Probleme bereitet, wir haben uns von Anfang an sehr wohl gefühlt und nichts vermisst.

Wie sah ein ganz normaler Tagesablauf aus?

Alles hat unmittelbar mit dem Leben dort zu tun. Vieles dreht sich um die einfachen Dinge wie:

1. Feuerholz beschaffen für die Essenzubereitung

2. Wäsche im See waschen

3. Beeren, Blätter sammeln

4. Tierhäute gerben

5. Bauen von Alltagsgegenständen wie Schüssel, Körbe, Häuser, Erdkühlschränke

Generell nahm das Kochen die meiste Zeit des Tages ein. Denn wir haben gelernt, direkt ohne Töpfe am Feuer zu kochen und das Feuer mit einem Drillbogen zu entfachen.

Gab es Zeiten, in denen Du oder die Kinder abbrechen wolltet?

Durch unsere andere Lebenseinstellung als Vegetarier, hatten wir von Beginn an gewissen Schwierigkeiten mit den anderen im Clan bzw. sie eher mit uns. Wir alle wollten nie wegen irgendwelchen Dingen, die mir dem Leben in der Natur zusammenhängen, abbrechen. Lediglich die Unterschiedlichkeit zwischen uns und dem Clan ergab Spannungen, die mal mehr mal weniger erträglich waren.

Gab es Dinge, die Du vermisst hast?

Ich dachte, dass ich Salz und Toilettenpapier vermissen werde. Aber ich habe weder diese beiden Dinge, noch etwas anderes vermisst. In der Natur zu sein, war ein riesiges Geschenk und hat mich zutiefst erfüllt. Da war kein leerer Raum in mir, kein Mangel, den ich spüren konnte. 

Was waren für Dich die schönsten Momente?

Davon gab es so viele! Ich nenne zwei: Der Erste war, als wir unsere erste Nacht in der Wildnis erlebten und in der Ferne Kojoten jaulen hörten. Das zweite Bild, was sich tief in mein Herz gebrannt hat, ist das Bild meiner Kinder, wie sie im Kanu über den See paddeln, wie wilde Indianerkinder, frei und ungebrochen.

Was glaubst Du, hat diese Erfahrung Deinen Kindern gebracht?

Ich glaube, sie haben die Zusammenhänge sehr viel besser verstanden, die zwischen allen Dingen bestehen. Alles ist miteinander verbunden und hat Auswirkung aufeinander. Verdrecke ich den See, aus dem ich trinke, fällt das auf mich zurück. Sammle ich kein Holz für das Feuer, werde ich frieren und kann nichts kochen. 

Und sie sind innerlich gewachsen an den Herausforderungen, denen sie gegenüber standen. Nachts im Dunklen durch den Wald laufen, Wölfe heulen hören, bei hohen Wellen mit dem Kanu über einen See paddeln und nass und kalt zu sein, den Weg durch den Wald zu finde, sich zu orientieren. 

All das hat ihnen, denke ich, geholfen, sich in ihrem Leben zu orientieren, sich etwas zuzutrauen, an sich selbst zu glauben und zu wissen, alles geht vorüber. Was nass ist, wird auch wieder trocken. Ich bin verantwortlich für mein Leben. Wenn ich nichts tue, hat es Konsequenzen und wenn ich etwas tue ebenso.

Du berichtest auch, dass Nahrung plötzlich nicht mehr im Überfluss da war und ihr auch Hunger hattet. Wie hat sich Deine Einstellung zum Thema Konsum verändert?

Wir schätzen und ehren Lebensmittel und allgemein alle Dinge mehr. Wir haben gelernt, dass weniger oft mehr ist und mit wie wenig man eigentlich klar kommt. Das hat uns Sicherheit gegeben.

Wenn es Streitigkeiten gab: was waren die häufigsten Konflikt-Themen?

Innerhalb unserer Familie hatten wir keine Konflikte. Jedoch im Clan. Eines war unsere Ernährungsweise und das andere unser Erziehungsstil. Wir begleiten unsere Kinder nichtdirektiv und dort wurde eher gelenkt. 

Gab es eine Situation, in der Du oder die Kinder Eure Grenzen überwunden habt und worauf Ihr stolz seid?

Oh da gab es viele. Wir sind stolz so viele Monate in der Wildnis gelebt zu haben und sämtliche Widrigkeiten gemeinsam bewältigt zu haben. Seien es heftige Stürme, die nachts über unser Zelt fegten oder die Seeüberquerung bei wirklich schlechtem Wetter, mit hohen Wellen. All das hat uns näher zusammengebracht.

Wie war die Rückkehr in die Zivilisation? War das nicht ein riesiger Kulturschock?

Es war und ist immer noch ein Kulturschock. All der Überfluss, die Hektik und die Lautstärke übermannt uns immer wieder. Ein Teil von unseren Herzen ist immer noch draußen in den Wäldern. Die Wildnis hat uns geprägt.

Wer mehr von diesem Erlebnis wissen möchte, kann das gerne nachlesen in unserem Buch: Eine Familie zieht in die Wildnis.

Gerade jetzt bereiten sich immer mehr Menschen auf einen Supergau vor. Wir haben dieses Szenario „geprobt“ und in unserem Buch teilen wir unser Wissen mit anderen. Wir haben Outdoor Erfahrungen mit Teenagern und Kleinkindern und würden uns freuen, wenn wir anderen Familien zeigen könnten, wie man in der Wildnis eine Überlebenschance hat. 

Denn eigentlich kommen wir aus der Wildnis und sind ein Teil von ihr. Wir haben nur die Beziehung zu ihr verloren, sie ist verschüttet. Doch es dauert weniger lang als man denkt und man fühlt sich mit Mutter Natur verbunden.


1 comment

  1. Romantisierend
    Ja, schön, wenn das alles so gut geklappt hat, zumal mit sieben Kindern. Da wir auch jedes Jahr eine fast zweimonatige Zelttour ins Ausland unternehmen, kann ich nur bestätigen, dass das alltägliche Draußensein den Kindern wirklich gut tut und sie wachsen läßt. ABER: Wir haben auf jeder unserer Reisen einen Arztbesuch benötigt, einmal auch den Notarzt, ohne medizinische Hilfe wären wir nicht heil nach Hause gekommen. Bei aller Naturschönheit ist nämlich eines zu bedenken: so richtig alt und gesund werden wir nur Dank der modernen Medizin, die Natur funktioniert einfach nur nach dem Prinzip „survival of the fittest“.